Kurze Skizze einer langen Krise

Seit Jahren hat sich die Insolvenzwelle der Pflege angekündigt. Gegenmaßnahmen sind ausgeblieben. Jetzt ist sie da.Ausbaden müssen es die Hilfsbedürftigen

Von Benno Schirrmeister

Wer gerne verzweifeln will, kann ja mal nachgoogeln, ob sich diese Insolvenzwelle wirklich schon seit zehn oder doch erst seit acht Jahren aufbaut. So lange wird ein strukturelles Problem in der Pflegefinanzierung nämlich schon als dringend bearbeitungsbedürftig bestimmt. Es gibt auch zwei grundsätzliche Lösungsansätze: Die einen fordern einen Komplett­umbau des Pflegesystems (Sockel-Spitze-Tausch, bei dem der Eigenanteil auf einen Fixbetrag reduziert wird, oder Vollversicherung) – die anderen seine bessere finanzielle Ausstattung (durch Beitragserhöhung, Ergänzungsversicherungen oder Steuerzuschüsse). Die Be­für­wor­te­r*in­nen beider Lager blockieren sich gegenseitig. Und jetzt ist sie jedenfalls da, die Pleitewelle.

Das leise Ende

Schon 2023 hatten laut dem Branchenportal „Pflegemarkt.com“ bundesweit 374 Dienste der ambulanten Pflege dichtmachen müssen. Auch dem Rest der Branche geht’s miserabel. Aber es ist sinnvoll, auf die nichtstationäre Pflege besonders zu schauen. Wenn ein Heim in Schieflage gerät, sorgt das für Aufsehen, zu recht: Es droht ja, wenn niemand es aufkauft, die gesamte Lebensin­frastruktur der Be­woh­ne­r*in­nen zusammenzubrechen.

Die ambulanten Dienste, dank derer Pflegebedürftige in ihrer gewohnten Umgebung bleiben können, gehen dagegen leise ein. Manchmal gib’s eine Meldung in der Lokalzeitung und ein Achselzucken. Häufiger gibt’s nicht mal das. Dabei waren davon im vergangenen Jahr 19.356 Pa­ti­en­t*in­nen betroffen, fast sechsmal so viele wie vor den Heimpleiten.

Und ein Blick in die Gerichtsregister belegt: Der Trend hält in der gesamten Branche an. Zwar berät mittlerweile eine Enquetekommission – also ein Gremium, dessen Mitglieder nicht an Fraktionszwänge gebunden sind – im Bundestag, wie eine Reform des Pflegesystems aussehen könnte. Aber bis die Gesetz und Realität wird, dauert das ein paar Jahre. So einen Aufschub kennt das Insolvenzrecht nicht.

Damit nicht alles in die Grütze geht, haben die Verbände der Pflegeunternehmen – AGVP, APH, BAD, VDAB – eine Petition gestartet, die vier Sofortmaßnahmen anregt. Die erste macht gleich besonders betroffen. Es ist nämlich die Forderung, dass „alle Kostenträger die vorgeschriebenen Zahlungsfristen einhalten“.

Die Kostenträger, die nicht zahlen, das sind nämlich sehr häufig die Sozialämter. Beispiel: Wenn Menschen übers zugestandene Budgets der Pflegeversicherung hinaus Dienstleistungen bräuchten, sich aber den Besuch der Pflegekräfte privat nicht leisten könnten, sollte es Hilfe zur Pflege geben. Die muss beantragt werden. Es folgt ein oft über viele Monate sich hinziehender Gutachterprozess, während dessen die Sozialämter erst mal noch nichts und an dessen Ende sie vielleicht gar nichts und wenn dann nur sehr zögerlich zahlen.

Diese Leistungen nicht zu erhalten, würde die Gesundheit der Pflegebedürftigen schädigen. Also kommen die Pfle­ge­r*in­nen und erbringen sie. Nur werden sie dann eben manchmal gar nicht, oft viel zu spät bezahlt: Die Städte und Kreise Schleswig-Holsteins, das hatte der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste Mitte vergangenen Jahres hochgerechnet, schuldeten den Pflegeanbietern des Landes rund 20 Millionen Euro. Heißt, wenn’s stimmt: Es gibt Kommunen, die diesen Bereich der Daseinsvorsorge einfach eingehen lassen.

Ähnlich brisant ist Punkt zwei der Liste, also die Forderung nach einer Refinanzierung der Personal- und Sachkosten: Beide sind zuletzt stark gestiegen, aber oft genug können sie nur – sehr ungesund – durch Rücklagen ausgeglichen werden: Die Einnahmen steigen nicht mit. So war politisch nachvollziehbar, 2022 die Tarifpflicht einzuführen. Wenn niemand mehr in der Pflege arbeiten will, weil es zu mies bezahlt ist, nutzt das keinem.

Beine weggetreten

Dass aber die Kosten bei den Diensten verbleiben, die ihre Preise nicht selbst erhöhen können, hat vielen die Beine weggetreten. Denn die Pflege wird nach einem sehr detaillierten Leistungskatalog vergütet: Das Anziehen von Stützstrümpfen, die Hilfe beim Duschen, des Verabreichen von Augentropfen ist in den meisten Bundesländern mit einer Punktzahl hinterlegt, die multipliziert mit einem je nach Land variierenden Punktwert zwischen 0,04586 (Nordrhein-Westfalen) und 0,0691 (Bayern, aber nur bei Großraumlage), einen Fixbetrag ergibt.

Der Katalog der vereinbarten ambulante Leistungskomplexe in den Bundesländern stammt von 2021 und die Neuberechnung wäre so kompliziert, dass er sich natürlich nicht sofort ändern kann, wenn Material- oder Spritkosten steigen. Er gilt auch für die Wegepauschale, die im jeweiligen Bundesland im ländlichen Raum dieselbe ist, wie in den Städten und weder dünne Besiedlung noch Spritkostenentwicklung noch Berufsverkehr, Baustellenstaus oder Parkplatzverfügbarkeit abbildet. Sie gilt pro Fall und beträgt in Baden-Württemberg 4,45 Euro.