berliner szenen
: Wenn Stille auf den Kopf fällt

Auf dem S-Bahnhof sitze ich neben einem Mann, der in der Sonne glänzt. Sein Gesicht von Schweiß, seine Haare wie nasse Grasbüschel zwischen Kopfsteinpflaster auf der sich spiegelnden Kopfhaut, die Schuhe hochpoliert und sein Jackett ist aus schillerndem, braunem Satin. Er fährt sich mit einem mit Blümchen verzierten Stofftaschentuch über den Mund und guckt mich entschuldigend an. Dann faltet er das Taschentuch und hält es in den Händen. Irgendwie interessiert mich dieser Mann. Ich sehe auf seine Hände und sage: „Ein schönes Taschentuch haben Sie da.“

„Ja“, er sieht verwirrt auf seine Hände herunter. „Ich kaufe sie auf Flohmärkten für ein paar Cent. Die Leute benutzen sie nicht mehr, dabei sind sie sehr praktisch.“ „Und so schön“, sage ich. „Ja“, sagt er wieder. Dann schweigt er. Na gut, denke ich, er möchte sich nicht unterhalten. Die S-Bahn kommt in vier Minuten, ich stecke meine Kopfhörer in die Ohren, als er sagt: „Ich fahre zu einem Vorstellungsgespräch.“

„Oh.“ Ich ziehe die Ohrstöpsel wieder heraus und bemerke: „Das ist immer aufregend.“ Er nickt. „Ich bin schon Rentner, aber es geht um einen Nebenverdienst.“ Ich nicke. „Es ist sehr still zu Hause allein“, sagt er. „Das kenne ich. Meine Kinder sind ausgezogen. Bei mir ist es auch still.“

„Ich bin schon lange allein, aber in letzter Zeit fällt mir die Stille auf den Kopf.“ Ich mag das Bild und sehe ihm auf den Kopf. „Da ist ein Job sicher gut“, sage ich. Er nickt und schweigt. Als die S-Bahn einfährt, wünsche ich ihm viel Erfolg für sein Gespräch. „Danke“, sagt er und knüllt das Taschentuch in einer Hand. Ich muss an meinen Großvater denken, der sich an heißen Tagen im Garten immer ein Stofftaschentuch auf den kahlen Kopf legte. Vielleicht ja auch, damit ihm die Stille nicht auf den Kopf fiel. Isobel Markus