Meister, Märchen und die Witzfiguren

Ein nie dagewesener Titelträger, ein Absturz fast ohne Beispiel sowie Hohn und Spott für den größten Klub des Landes. Die Bilanz einer außergewöhnlichen Saison in der Fußballbundesliga

Meisterlich auch neben dem Platz: Leverkusens Trainer Xabi Alonso unter der Bierdusche Foto: Fo­to:­ Kirchner/imago

Von Andreas Rüttenauer

Kommt er? Kommt er nicht? Will er wirklich? Ist er zu teuer? Oder ist es dem FC Bayern egal, was er kostet? Angefangen hat die Saison in der Fußballbundesliga der Männer mit Harry Kane. Am Ende der Saison redet kaum noch jemand über den englischen Stürmer. Der hat zwar seine Schuldigkeit getan und vor dem letzten Spieltag schon 36 Tore erzielt. Aber einen Titel hat er nicht gewonnen. Es gibt nicht wenige, die das lustig finden. Kane gewinnt nie einen Titel. Auch mit seinem früheren Klub Tottenham Hotspur ist ihm das nicht gelungen.

Es wird also gelacht über die Münchner. Und das ist vielleicht das Verrückteste an dieser Saison: Der FC Bayern München ist zur Lachnummer verkommen. Elfmal in Serie hatte er die Meisterschaft gewonnen und jetzt? Nicht einmal einen neuen Trainer finden sie. Es ist wirklich ein Witz.

Über den lacht die ganze Fußballrepublik. Und darüber kommt der neue deutsche Meister fast ein wenig zu kurz. Klar, es sind viele Hymnen gesungen worden auf die so unfassbar lange ungeschlagene Mannschaft von Bayer Leverkusen, auf ihre Stabilität, auf ihre Kreativität, auf ihre Nervenstärke, ihren umtriebigen Superbubi Florian Wirtz und ihren spanischen Trainer Xabi Alonso. Der wurde fast wie ein Heiliger besungen, als er entgegen aller Erwartung meinte, er wolle nicht zum FC Bayern oder zum FC Liverpool gehen, sondern mit Leverkusen in der nächsten Saison Champions League spielen. Leverkusen! Was hat diese Stadt, was München nicht hat, mag man sich bei den Bayern fragen.

Das Bayerkreuz zum Beispiel. Das ermöglicht dem Klub, Spitzenfußball zu präsentieren, ohne allzu groß ins Risiko gehen zu müssen. Ein Minus gleicht im Zweifel der Mutterkonzern des Klubs aus, der sich so gerne Werkself nennt, als würden die Kicker hauptberuflich im Chemiewerk buckeln. Es ist kein Wunder, dass die Herzen der Fußballfans nicht wirklich aufgehen, wenn sie an Leverkusen denken. Bayer bleibt der Pillenklub, da kann das Team noch so schön die Flügel überladen und die Gegner damit überfordern.

Ausgerechnet in der Saison, in der aus Kurven der Protest gegen den Einstieg von Investoren in die Deutsche Fußball-Liga für Aufsehen gesorgt hat, wird also ein Klub Meister, bei dem ein Wirtschaftsunternehmen das Sagen hat. Auch die Bilder der Tennisbälle, die aus den Kurven auf die Plätze geworfen wurden, um den Spielfluss zu unterbrechen, haben diese Saison geprägt. Mit ihren Protestaktionen wollten die Fans dagegen protestieren, dass in der Bundesliga geschieht, was in Leverkusen Alltag ist – dass in einer Konzernzentrale, an der Spitze eines Private-Equity-Unternehmens entschieden wird, in welche Richtung sich der Fußball entwickeln soll.

Dass es bei dem geplanten Investoreneinstieg um den Aufbau einer Plattform für die internationale Vermarktung von Bundesligaspielen gehen soll, wollte niemand so recht glauben. Wer soll sich jenseits der deutschen Fußballgrenzen schon für Spiele zwischen Augsburg und Heidenheim interessieren? Auch diese Frage stand im Raum. Da konnte noch niemand wissen, dass die Heidenheimer, die als originelle Einjahresfliege in der ersten Liga begrüßt worden waren, mit jedem Spieltag mehr Sympathien auf sich ziehen würden. Bis zum Schluss waren sie sogar in jenem merkwürdigen Rennen um die Europapokalplätze dabei, für das es in dieser Saison nicht einmal ein positives Torverhältnis gebraucht hat.

Wie schlecht einem Klub, der das nicht gewöhnt ist, eine Europapokalteilnahme tun kann, das war bei Union Berlin zu beobachten. Die waren, wie auch immer sie das angestellt haben, in der Champions League gelandet, haben dort dann einen Punkt geholt und erlebten in der Liga einen Absturz, wie er eigentlich nur mit jenem des 1. FC Nürnberg vergleichbar ist, der 1968 Meister wurde und im Folgejahr abgestiegen ist. Aus dem selbsternannten Kultklub, in dem Jahr für Jahr neue Freudentränen vergossen wurden, ist ein trauriger Verein geworden, der seinen langjährigen Trainer Urs Fischer rausgeschmissen, irgendeinen anderen verpflichtet hat, um zwei Spieltage vor Saisonende festzustellen, dass der neue Trainer doch nichts taugt.

Fans protestieren mit Tennisbällen gegen Investoren, und die Werkself von Bayer holt den Titel

Man möchte dem VfB Stuttgart wünschen, dass ihm ein solches Schicksal erspart bleibt. Die Stuttgarter haben jedenfalls die märchenhafteste Geschichte dieser Saison geschrieben. In der Vorsaison waren sie mit gerade einmal 33 Punkten in die Relegation gestolpert und haben in dieser Saison so brillant aufgespielt, dass die Qualifikation zur Champions League die logische Folge war und es gleich fünf Stuttgarter ins EM-Aufgebot von Bundestrainer Julian Nagelsmann geschafft haben. Der VfB war neben Leverkusen auch spielerisch der Hingucker der Saison.

Von Borussia Dortmund, dem Klub, der in der Vorsaison um ein Haar den Bayern den Titel geklaut hatte, kann man das wahrlich nicht sagen. Bei fast jedem Spiel musste man sich fragen, wo eigentlich die Spiel­idee ist. Am 1. Juni spielt dieser BVB im Finale der Cham­pions League gegen Real Madrid. Auch das sagt gewiss etwas über die Bundesliga. Bloß was?