Diktatur des Proletariats

Am 23. Mai wird das Grundgesetz 75 Jahre alt. Die Chance auf eine gemeinsame Verfassung wurde nach der Wende vertan

Foto:  Illustration: Katja Gendikova

Von Ilko-Sascha Kowalczuk

Stalin ließ 1936 eine neue Verfassung für die Sowjetunion verkünden. Sie ging als „Stalinsche Verfassung“ in die Geschichte ein. Darin war das Recht auf Arbeit, die Gleichberechtigung der Frau, die Freiheit der Religion, Rede-, Versammlungs-, Demonstrations- und Pressefreiheit, Vereinigungsfreiheit, das Briefgeheimnis oder auch die „Unverletzlichkeit der Person“ garantiert. Kein einziger dieser Paragraphen – wie viele andere dieser Verfassung – hatte einen wirksamen Realitätsbezug. Wer sich darauf berief, galt als Staatsfeind und wurde entsprechend behandelt. Es existierte keine Instanz, kein Verfassungsgericht, das hätte angerufen werden können. Über allem thronte die Kommunistische Partei, die allein, intransparent und nach „Lage der Dinge“ entschied, was „richtig“ und „falsch“, wer warum und wofür sanktioniert, verfolgt, bestraft oder erschossen wurde.

In der „Diktatur des Proletariats“ war kein belastbares Rechtssystem vorgesehen. Oder, wie Stalin es mit Bezug auf Lenin 1924 ausdrückte: „Die Diktatur des Proletariats ist die durch kein Gesetz beschränkte und sich auf Gewalt stützende Herrschaft …“

Als sich die Kommunisten nach der Befreiung vom Nationalsozialismus im Mai 1945 daran machten, in ihrem deutschen Machtbereich, der Sowjetischen Besatzungszone und dem Ostsektor Berlins, ihre Herrschaft zu errichten, legten sie großen Wert darauf, formale Kriterien eines volksdemokratischen Systems zu berücksichtigen. Dazu zählte eine Verfassung. Im September 1946 verabschiedete die SED-Führung „Grundrechte des deutschen Volkes. Der Weg zur Einheit Deutschlands“, eine Vorarbeit für eine neue Verfassung. Dieser Grundrechtskatalog mit 20 Artikeln war an einer parlamentarisch-bürgerlichen Demokratie orientiert. Die SED müsse sich als die einzige Partei profilieren, die konsequent für Frieden eintrete. Nur die restlos überwundene alte Gesellschaftsordnung und die Etablierung einer „demokratischen Ordnung“ unter Führung der SED garantiere Frieden.

Schon im August 1946 überreichte der einflussreichste deutsche Kommunist, Walter Ulbricht, dem Kreml einen Verfassungsentwurf. „Verfassungsfragen sind Machtfragen“, betonte er. Der Entwurf spiegelte einen Kompromiss zwischen bürgerlichen Ansprüchen auf ordnungspolitische Bewahrung und sozialistischen Zukunftsvorstellungen einer anders strukturierten Wirtschaft auf der Grundlage staatlicher Vorgaben.

In einem scheindemokratischen Verfahren ist zwischen Ende 1947 und Sommer 1949 eine Verfassung für die „Deutsche Demokratische Republik“ ausgearbeitet worden. Im März 1948 stellte Stalin fest, dass diese Verfassung nicht besonders demokratisch zu sein brauche, um die Leute nicht zu verschrecken, doch müsse sie demokratisch genug sein, „um von den besten Elementen in West und Ost akzeptiert werden zu können“. „Demokratisch“ war in der Lesart der Kommunisten nur, was sich in der Sowjetunion und den Volksdemokratien staatspolitisch entwickelte: Föderalismus, Gewaltenteilung, ein Rechtsstaat waren nicht vorgesehen, sondern nur ein Scheinparlament; die KP als führende Kraft.

Im Dezember 1948 ist nicht nur die künftige Verfassung der DDR von Stalin genehmigt worden. Verabschiedet wurde sie schließlich am 30. Mai im Folgejahr. Deutschland wurde in Artikel 1 als unteilbare Republik deklariert, wobei das Papier – anders als das Grundgesetz – keine Artikel enthielt, die Wege zur Wiedervereinigung aufzeigten. Am 7. Oktober 1949 erfolgte die Staatsgründung mit der Inkraftsetzung der Verfassung durch die Provisorische Volkskammer. Drei Tage zuvor hatte Gerhart Eisler in einer Sitzung der SED-Führung unmissverständlich verkündet: „Wenn wir eine Regierung gründen, geben wir sie niemals wieder auf, weder durch Wahlen noch andere Methoden.“

Im Prinzip ist damit die Verfassungsgeschichte der DDR auserzählt. Sie war zu keinem Zeitpunkt das Papier Wert, auf dem sie geschrieben und millionenfach verbreitet wurde. Mein Vater hat sie als Student 1958 durchgearbeitet. Er war noch nicht SED-Mitglied, aber bereits auf „gutem Wege“ vom dogmatisch-gläubigen Katholiken zum dogmatisch-gläubigen Kommunisten. An der Stelle in der Verfassung, in der festgelegt wurde, dass die Regierung „unparteiisch zum Wohle des Volkes und getreu der Verfassung und den Gesetzen“ zu arbeiten habe, unterstrich er „unparteiisch“ und fügte an den Rand ein Fragezeichen ein. Ja, das kollidierte mit der leninistischen Theorie und auch mit der DDR-Realität.

Das westdeutsche Grundgesetz nannte die SED-Führung ein amerikanisches Diktat, eine antidemokratische Verfassung, die der DDR-Verfassung diametral entgegenstehe. Diese Erzählung blieb von der SED unangetastet bis zum Untergang der DDR. Zehn Tage nach DDR-Gründung im Oktober 1949 verabschiedete die SED-Führung einen Beschluss, der die „führende Rolle“ der Partei festschrieb – gegen die Verfassung. Kein Gesetz, keine Verordnung, keine Verwaltungsmaßnahme durfte von der Regierung oder Volkskammer verabschiedet werden, ohne dass nicht zuvor der SED-Parteivorstand oder die zuständige Abteilung im SED-Apparat diese selbst beschlossen hatten. Es entstand bei der SED eine Doppelstruktur, die die staatlichen Verwaltungsstrukturen spiegelte. Zugleich beschloss die SED-Spitze, dass im Staatsapparat nur Personen arbeiten dürften, die dem Staat parteiisch ergeben waren.

Foto: Gerard Leber/imago

ist 1967 in Ostberlin zur Welt gekommen. Der Historiker und Publizist befasst sich schwerpunktmäßig mit der Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Die erste DDR-Verfassung beinhaltete einen Artikel, der bis 1958 die Grundlage für politische Verfolgungen abgab. Artikel 6 regelte, dass „Boykotthetze“ bestraft würde. Darunter konnte alles fallen, was der parteiischen Justiz dazu einfiel – zehntausende Urteile, darunter auch Todesurteile, sind mit dem Verweis „Boykotthetze“ gefällt worden. 1958 kam ein „Strafergänzungsgesetz“ heraus, das nunmehr „Staatsverrat“, „Spionage“, „Hetze“, „Staatsverleumdung“, „Sabotage, „Diversion“ und anderes konkretisierte, sodass Artikel 6 in der Strafrechtspraxis seine Bedeutung verlor. Ulbricht brachte auf den Punkt, was ohnehin galt: Gesetze hätten „der Entfaltung der Macht“ zu nützen. Staat und Recht bilden den „Hebel der sozialistischen Umwälzung“.

Am 1. Dezember 1967 erklärte er, es werde eine Kommission zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung eingesetzt. Die Verfassung von 1949 habe dem Sozialismus den Weg bereitet. Nun komme es darauf an, die Hauptaufgabe zu lösen, „der entfaltete Aufbau der sozialistischen Gesellschaftsordnung.“ Die neue Verfassung sollte weiter suggerieren, in der DDR würden Grund- und Menschenrechte garantiert. Tatsächlich ging es darum, die „führende Rolle der SED“ in der Verfassung festzuschreiben und die DDR als souveränes, selbstständiges, unabhängiges Völkerrechtssubjekt zu behaupten. Ulbricht zeigte sich stolz, dass in der DDR bereits das „bürgerliche Prinzip der Gewaltenteilung“ beseitigt worden sei.

Am 6. April 1968 ist die neue Verfassung mit einem Volksentscheid angenommen worden. Immerhin sind niemals zuvor oder später so viele Gegenstimmen und Nichtwähler offiziell eingeräumt worden: rund 700.000, knapp sechs Prozent der Stimmberechtigten. Die Verfassung schrieb die führende Rolle der SED fest und definierte die DDR als einen „sozialistischen Staat deutscher Nation“. Insgesamt ähnelte diese Verfassung in vielen Punkten, zuweilen bis in die Formulierungen, der Stalinschen Verfassung. 1974 kam es zu einer Veränderung – jeder Bezug auf die deutsche Nation und Gesamtdeutschland wurde getilgt, zugleich kam es zu einem Bekenntnis, unlösbarer Bestandteil „der sozialistischen Gemeinschaft“ zu sein. Ein Passus, der rückwirkend den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag 1968 legitimierte und zugleich präventiv vorsorgte.

Das Grundgesetz nannte die SED-Führung ein amerikanisches Diktat, das der DDR-Verfassung diametral entgegenstehe

Am 1. Dezember 1989 wurde der Führungsanspruch der SED aus der Verfassung gestrichen. Nur eine Woche später begann der Zentrale Runde Tisch zu tagen, um freie Wahlen in der DDR vorzubereiten. Eine Arbeitsgruppe befasste sich mit einer neuen DDR-Verfassung. Erst etwa drei Wochen nach den Wahlen am 18. März 1990 legte sie einen Verfassungsentwurf vor. Die Volkskammer befasste sich nicht damit. Die Vereinigung nach Art. 23 des Grundgesetzes – Beitritt zum Geltungsbereich des GG – stand auf der Tagesordnung. Der im Grundgesetz immer noch bestehende Art. 146 – Verabschiedung einer neuen Verfassung über die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung – fand keine Mehrheit, weder vor noch nach dem 3. Oktober 1990.

Eine neue Verfassung hätte die deutsche Einheit auf eine politisch-kulturell-mental andere Ebene, auf ein Dokument der Gemeinsamkeit erheben können. Auch heute könnte das Inkraftsetzen von Art 146 GG etwas bewirken – nämlich De­mo­kra­t*in­nen in der Gesellschaft das Selbstbewusstsein zurückgeben, dass sie in einer großen Mehrheit sind und nicht die linken und rechten Extremisten, die das dauernd für sich reklamieren. Dafür allerdings bedarf es Mut und die Einsicht, dass Verfassungen nicht allein Angelegenheit von Ju­ris­t*in­nen sind, sondern der ganzen Gesellschaft gehören.

Heute gibt es keine demokratische Verfassung auf der Welt, die so viele Veränderungen und Ergänzungen erfuhr wie unser Grundgesetz in den letzten 30 Jahren. In der DDR berief ich mich oft auf die Verfassung, um meine Kritik am SED-Staat mit dessen eigenen Papieren zu untermauern. Heute hätte ich gern eine moderne Verfassung, deren Zustandekommen allein ein Schlag ins Gesicht der Demokratie- und Freiheitsfeinde von links und rechts sein könnte.