MIT DEN SCHERBEN UNTERWEGS IN DIE GRÜNDERZEIT SCHÖNEBERGS
: Am Grab des großen Sängers

Westwärts, ho!

VON DIRK KNIPPHALS

Und plötzlich liegt da Rio Reiser.

Spaziergang auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in der Großgörschenstraße, es ist ein noch unentschlossener, aber schon hoffnungsfroher Vorfrühlingstag. Vögel. Teegetrinke in dem kleinen Café am Eingang des Friedhofs, und dass Rio Reiser hier begraben liegt, kann man erst gar nicht recht glauben. Ist der nicht in Fresenhagen, da oben bei Dänemark, in seiner Land-WG gestorben? Und warum liegt er nicht in Kreuzberg?

Wikipedia wird dann, nachdem man zu Hause gleich nachgeguckt hat, erzählen, dass er natürlich zuerst in Fresenhagen beigesetzt worden war – Grab als Pilgerstätte und all das –, dass er dann aber nach dem Verkauf des Hofes im Februar 2011 hierhin umgebettet wurde. Stimmt ja, irgendwas hatte doch auch in der Zeitung gestanden.

Schön sieht es aus, das Grab. Den Gedenkstein zieren ein kleiner Engel, eine Friedenstaube und, König von Deutschland, gleich zwei Kronen. Es gibt Rio-Reiser-Fotos und einen friesischen Leuchtturm. „Übers Meer“ steht auf einer Schleife. Kleine Steine, Herzen, Tannenzapfen liegen herum. Die ganze Anlage sieht wunderbar friedlich und lange eingewachsen aus. Im 19. Jahrhundert, sagt eine Tafel, war das hier ein großbürgerlicher Friedhof, letzte Ruhestätte des Geheimratsviertels. Den älteren Grabstellen sieht man das an. Dazu viel Grün. Irgendwie netter alles als Jim Morrison auf Père Lachaise in Paris. Und da steht man dann halt vor der Grabstelle und guckt ein bisschen in den Himmel.

Wie der Zufall es wollte, war gerade am Wochenende davor auf einer privaten Party „Junimond“ aufgelegt worden. Während die anderen Partygäste laut in den Refrain eingestimmt hatten, hatte man selbst, Getränk in der Hand, seinen Oberkörper ein bisschen hin und her gewiegt und leise mitgesummt. „Es ist vorbei, bye, bye, Junimond“.

Mit Ton Steine Scherben verbinden viele linksalternative Menschen eine Geschichte, die über das obligate bei Demos aus den Lautsprecherwagen tönende Musikbegleitprogramm hinausgeht; meine reicht bis in die siebziger Jahre zurück. Der ältere Bruder eines Schul- und Fußballfreundes war damals nach Berlin gegangen und hatte bei den Scherben mitgemacht. Auf dem Dachboden seines Elternhauses übten wir auf selbst gebastelten Holzgitarren teenagermäßig Playbackkonzerte, und nie wurde über diesen großen Bruder gesprochen. Er hat ganz mit seiner Familie gebrochen, sagte mir mein Freund einmal. Ich fragte: „Ganz?“ Er sagte: „Ganz!“ Und das hat einen natürlich ungeheuer beeindruckt. So funkte das rebellische Westberlin ganz direkt und noch vor David Bowie und Christiane F. in den gutbürgerlichen westdeutschen Vorort mit seinen Vorgärten und Einfamilienhäusern hinein.

Als ich dann nach einigen Kurzbesuchen das erste Mal länger in Berlin war, ein verreister Freund hatte mir für ein paar Wochen seine Wohnung überlassen, war das ganz in der Nähe von dem jetzigen Grab. Willmanndamm, zweiter Hinterhof, Parterrewohnung, keine Dusche, Laken vor den Fenstern. Es war einer dieser heißen Berliner Sommer, aber die Sonne nervte, hauptsächlich hat man ja nachts gelebt. Zu essen gab es Döner und Schultheiss, und im Yorck-Kino fingen um Mitternacht Doppelprogramme an. Ich weiß noch, wie irre die Yorckbrücken aussahen, als ich in der Morgendämmerung aus einem dieser vielen apokalyptischen Kinofilme der damaligen Zeit – Roy Scheider spielte einen Hubschrauberpolizisten, der eine ganze Großstadt überwacht – hinausgetaumelt kam. Wie Relikte einer in Wirklichkeit längst untergegangenen Menschheit sahen die Brücken aus.

Das war ja noch die Zeit, als man wirklich dachte, dass die Innenstädte zerfallen; Rio Reiser hatte sich ja auch aufs Land davongemacht. Dass das in Wirklichkeit eine Gründerzeit gewesen ist, in der die Wurzeln von vielem liegen, was Schöneberg heute so posttherapiert lebenswert macht, konnte man ja nicht ahnen. Ehemals besetzte Häuser wurden hübsch gemacht, ambitionierte Weinläden gegründet, freundliche Restaurants eröffnet, Inis gegründet, die gegen Stadtautobahnen kämpfen, Kinderläden aufgemacht. Der große Kampf gegen das System hatte sich in viele kleine Kämpfe, das Leben besser und lebenswerter zu machen, aufgelöst.