Die Mutter von Fukushima

PROTEST Chieko Shiina hatte einen Biobauernhof. Bis die Erde zu beben begann. Seitdem versucht sie, die Gesellschaft zum Beben zu bringen. Vorsichtig

■ Die Bewegung: Demos und Ablehnung der Kernenergie, die sich derzeit in Umfragen zeigt, gab es in Japan schon 1986 – nach Tschernobyl. Seit Fukushima gehen wieder regelmäßig Tausende auf die Straße – im September 2011 waren es 80.000 in ganz Japan.

AUS TOKIO UND FUKUSHIMA CITY INGO ARZT
UND FELIX MILKEREIT

Chieko Shiina sieht erst nur die winzigen Vibrationen im warmen Badewasser, ganz leichte Wellen, bevor sie es selbst spürt: Ein Erdbeben, wie so oft in Japan, unvermeidbar wie der Wintereinbruch. Shiina springt aus der Wanne, reißt die Tür zum Bad auf, und von heute aus betrachtet kommt ihr das alles komisch vor: Wie sie da am Nachmittag des 11. März 2011 nass, nackt und ängstlich auf den Flur rennt, während vor der Küste Japans, draußen auf dem Meeresgrund, Naturgewalten toben, die Tausenden das Leben kosten, eine nukleare Katastrophe hervorrufen und Shiina mit ihrem alten Leben brechen lassen.

Heute muss Chieko Shiina lachen, wenn sie von der Frau erzählt, die damals aus dem Badewasser springt. Vielleicht steckt ein ganz leichter Triumph in diesem Lachen. Weil sie damals gegen die Naturgewalten machtlos war. Und weil sie heute etwas tun kann – gegen die Staatsgewalt.

Bis zu diesem 11. März ist Chieko Shiina eine Biobäuerin, die im Winter durch Japan reist, um Gedichte vorzulesen. Heute ist sie mit ihren 65 Jahren die Wortführerin der „Mütter von Fukushima“. Frauen, die wütend sind, weil sie dem alten, bürokratischen System in Japan nicht mehr trauen. „Wir protestieren, weil wir eine Neugeburt der japanischen Gesellschaft wollen“, sagt Chieko Shiina.

Im Oktober haben sie ihren Protest ins Regierungsviertel von Tokio getragen, direkt vor das Ministerium für Wirtschaft, Handel und Industrie. Es ist das Ministerium, das die japanische Atomaufsichtsbehörde unter sich hat. Die Behörde steht in Japan für den Klüngel zwischen Politik und Industrie, der die alten Reaktoren von Fukushima trotz bekannter Sicherheitsmängel einfach weiterlaufen ließ. Dort campieren seither die Mütter von Fukushima in einem weißen Zelt, wie man es für Gartenpartys verwendet. Innen herrschen nachts Minusgrade.

Fukushima teilt die japanische Zeitrechnung. Ein Jahr danach ist das Vertrauen in das politische System zerstört. Auf einmal werden Menschen wie Shiina gehört, auch wenn ihr Anblick für die Bürokraten aus den Ministerien noch fremd ist.

Ein älterer Japaner im Business-Look, mit leicht ergrauter Richard-Gere-Frisur kommt vorbei. Er betrachtet ein Plakat, auf dem ein Baby in Windeln sitzt. Pfeile zeigen auf verschiedene Körperteile: radioaktives Strontium-90, 28 Jahre Halbwertszeit, es reichert sich im Fettgewebe des Babys an. Der Mann weicht zurück, als stünde dort ein stinkender Schweinestall.

Chieko Shiina sieht ihn an. Will er mehr wissen? Er betrachtet sie aber nur, als wäre sie mit ihren groben Schuhen und dem braunen Pullover die Bäuerin im Schweinestall, dann eilt er weiter in Richtung Wirtschaftsministerium. Der schmucklose graue Bau ragt hinter den Zelten in den regenverhangenen Himmel.

„Was in den Köpfen dieser Menschen vorgeht, ich weiß es nicht“, sagt Chieko Shiina.

Vor der Katastrophe waren Menschen wie Shiina für die Mehrheit irrelevant, sie lebte auf ihrem Biobauernhof in den Bergen der Präfektur Miyagi, neben der Präfektur Fukushima. Sie versuchte, Kindern den Wert der Natur zu lehren. Vor dem Kochen erntete sie mit ihnen Gemüse.

Es gibt jetzt angesehene Japaner, die fast dasselbe sagen wie die Biobäuerin Chieko Shiina. Yoichi Funabashi, der Chefredakteur der Asahi Shimbun, der zweitgrößten Zeitung, etwa: „Jeder hängt irgendwie an jedem, weshalb niemand die Wahrheit sagen will – das könnte Ärger bedeuten. Also schweigen die Leute.“ Selbst der ehemalige Premier Naoto Kan findet: Die Verflechtungen verhindern Kritik.

Die Zeltbesetzerinnen sagen: Die Regierung lügt.

Als die Polizei sie im Januar räumen wollte, kamen 800 Demonstranten aus ganz Tokio und stellten sich schützend vor sie. Nun kennt sie jeder in Japan, vor dem Jahrestag melden sich Medien aus aller Welt.

In Chieko Shiinas Zelt köchelt Wasser über einem Gaskocher, das hupfreie Straßenrauschen Tokios dringt herein. Hinten haben die Frauen ein flaches Podest auf den kalten Asphaltboden gebaut, dort trinken Shiina und ein paar Mitstreiterinnen im Schneidersitz grünen Tee. Sie tragen Wollmützen und Schals.

Chieko Shiina ist ruhig, aber entschlossen, ähnlich wie der japanische Protest. Er formiert sich aus Studenten, Künstlern, Punks, der marxistischen Eisenbahnergewerkschaft, Betroffenen aus Fukushima, Politikern der Opposition – Kommunisten und Sozialisten. Auf der Bühne redet Shiina einfach und klar, nicht zornig oder schmetternd. „Es ist meine Aufgabe, zu sagen, was falsch ist“, sagt sie. Eine kleine, mutige Frau mit immer noch tiefschwarzen Haaren.

Sie hat die Sitzblockaden vor dem Ministerium hinter sich. Ohne Ergebnis. Sie hat Petitionen an Tepco übergeben, den Atomkonzern. Ohne Antwort. Sie sprach vor Tausenden in Tokio. Ohne dass sich die Politik bisher merklich bewegt hätte.

Aber sie bleiben jetzt da. Zehn Monate und zehn Tage wollen sie ausharren, so lange ist eine Frau schwanger, sagt die japanische Tradition. Die Art, wie man kämpft, sollte dem Leben entnommen sein, sagt Chieko Shiina, die drei Töchter hat und vier Enkelkinder.

Die Mütter von Fukushima sind für viele Japaner zur Stimme der Opfer geworden. Diejenigen, die unmittelbar von der Katastrophe betroffen sind, haben ein Recht, öffentlich zu klagen. „Dieses Zelt ist ein Symbol dafür, dass sich etwas ändert, überall“, sagt Chieko Shiina. Es hängt voll mit Grußkarten aus aller Welt, einem deutschen Ortsschild: „Gorleben, wir stellen uns quer“.

Als Shiina zwanzig war, hat sie in Tokio studiert, viel Marx gelesen, gefeiert, demonstriert. „Jetzt mache ich mit 65 eben die Dinge, die ich versäumt habe zu tun“, sagt sie. Sie will die Gesellschaft ändern, nicht nur sich selbst. Vielleicht bietet Fukushima den Nährboden.

Die Regierung sagt: Forscher wissen bisher nicht, was genau Radioaktivität in Kinderkörpern anrichtet

Am 11. März 2011, als das Badewasser vibriert, ist Chieko Shiina zu Besuch bei ihrer Tochter in Yokohama. Sie steckt fest. Züge und Busse fahren nicht mehr, vor allem nicht Richtung Fukushima. Bis zum 15. März erschüttern in Fukushima-Daiichi Wasserstoffexplosionen die Reaktorgebäude Nummer 1, 2, 3 und 4. Die Regierung ordnet an, alle Menschen in einem Radius von zwanzig Kilometern zu evakuieren. Shiina ruft ihre zwei Töchter in Fukushima City an, sechzig Kilometer vom Kraftwerk entfernt, sie sagt: „Haut ab, bringt euch in Sicherheit, was aus Japan wird, wissen wir nicht.“

Heute weiß man, was aus Japan hätte werden können, wäre nicht ein Großteil der Radioaktivität aufs Meer hinaus geblasen worden. Man weiß, dass Simulationen, in welche Richtung der Wind die radioaktiven Partikel tragen würde, im Wirrwarr der Katastrophe untergingen. Die Menschen flohen in die gleiche Richtung, in die sich die Radioaktivität ausbreitete. Bis heute ist unklar, wie stark die Umwelt belastet worden ist. Die Regierung spricht in einem Vergleich von zehn, unabhängige Experten von mehr als vierzig Prozent der Verseuchung durch Tschernobyl.

Deshalb fließen manchmal Tränen bei den Demonstranten in Tokio, wenn die Frauen von Fukushima zum Mikrofon greifen und ihre Fragen stellen: Wer sagt die Wahrheit über die Strahlenbelastung?

Mittlerweile wissen die Frauen um die Wirkung der radioaktiven Isotope in der Umwelt. In Deutschland hat man ein Gefühl für 1,61 Euro pro Liter Super, in Japan für 5,82 Mikrosievert pro Stunde, für Becquerel und Millisievert pro Jahr – die Einheiten für radioaktiven Zerfall und Strahlenbelastung. Nur, wann genau wird man davon krank? „Bitte, evakuiert endlich die Kinder. Wenn sie irgendwann erforschen, dass alles unbedenklich ist, sollen sie eben über uns lachen. Aber was, wenn nicht? Wer lacht dann?“, fragt Shiina.

Die japanische Regierung wiederum behauptet, es gebe keine eindeutigen Forschungsergebnisse, was in den Körpern von Kindern passiert, wenn sie jahrelang leicht erhöhter Radioaktivität ausgesetzt sind. Zu „Kodomo Fukushima“ – dem Netzwerk, dem die Mütter von Fukushima angehören, zählen auch Nuklearmediziner, die vor Krebs und anderen Langzeitfolgen warnen. Doch Japans Regierung kennt für Evakuierungen keine gesonderten Grenzwerte für Kinder.

Im Zelt der Frauen zeigt eine Landkarte der Region um das Kraftwerk, wie hoch die Strahlenbelastung pro Stunde ist: grün bis rot. Shiinas Hof liegt in einem hellgrünen Bereich. 4,5 Millisievert im Jahr, überschlägt sie im Kopf. Rund ein Viertel der Dosis, der ein deutscher AKW-Arbeiter jährlich ausgesetzt werden darf. Laut Regierung zu niedrig für eine Evakuierung, folglich auch für eine Entschädigung. Aber was ist mit den Kindern?

Chieko Shiina hat eine Lebensaufgabe gewonnen: die Kinder vor dieser potenziellen Gefahr zu schützen. Dafür hat sie ihre Heimat verloren. Das Holzhaus mit Wänden fast so dünn wie Papier und einem Holzofen als Herd und Heizung. Zu Hause auf ihrem Hof fällt jetzt der Bergregen, die Wildkräuter sprießen. Chieko Shiina formt diesen Regen mit den Händen, wie er von oben herab rieselt. „Es wäre jetzt die schönste Jahreszeit“, sagt sie.

Es ist nicht die Angst vor der Strahlung, die Shiina nicht zurückkehren lässt. Für ältere Menschen sind die Werte weniger bedenklich. Es ist der Schmerz über den Verlust ihrer Heimat.

Die Wärme, die der Holzofen Luft und Wasser zu Hause verleiht, fühlt sich echt an, die Wärme der Heizung in ihrer neuen Wohnung in Fukushima City dagegen fad. Shiina ist freiwillig gegangen. Wer will schon grünen Tee, Kürbisse, Reis oder Kakifrüchte von einem Biohof in einer verstrahlten Region kaufen?

Koji Matsuzaki macht Werbung für Gemüse aus Fukushima. Er leitet in der Präfektur von Fukushima City die Abteilung für Wiederaufbau – ein paar Straßen von dem Bioladen entfernt, der früher Shiinas Ernte verkaufte. Er ist zum Gegner der Mütter von Fukushima geworden, auch wenn keine der beiden Seiten das so formulieren würde.

Matsuzaki trägt viel Verantwortung. Er muss die Bevölkerung vor den Spätfolgen der Radioaktivität schützen und der Region eine Zukunft geben. Nach Fukushima. Sein Programm: Ausstieg aus der Atomkraft und Investitionen in grüne Energien. Sie wollen unabhängig werden von den Steuern des Atomkonzerns Tepco, mit dessen Hilfe sie früher Schulen, Straßen oder Schwimmbäder errichtet haben. Wenn sie eine Zukunft wollen, hat der Gouverneur gesagt, müssen sie die Jugend halten, unbedingt. Deshalb muss Normalität herrschen, unbedingt.

Und auf den allerersten Blick sieht das auch so aus.

Im Februar ist es noch kalt hier, sechzig Kilometer Luftlinie von dem zerstörten Atomkraftwerk entfernt, achtzig Kilometer von Chieko Shiinas Hof.

Im Westen der Stadt liegen schneebedeckte Berge. Die Skigebiete blieben in diesem Jahr leer. Etwa 280.000 Einwohner, eine Karaoke-Bar neben dem Bahnhof, die das Motto „singende Menschen lächeln stets“ per Leuchtreklame verkündet, ein paar Plattenbauten, ein Fluss. Wären die Shinto-Schreine mit den geschwungenen Dächern Kirchen mit Türmen, Fukushima City könnte auf den ersten Blick Mannheim oder Hannover sein.

■ Prüfung: Alle japanischen AKWs werden einem Stresstest unterzogen, doch selbst Regierungsberater kritisieren den als unzureichend. Ab April sind zeitweise alle 54 AKWs vom Netz.

■ Export: Japan will Reaktoren nach Jordanien, Russland, Südkorea und Vietnam verkaufen: Nach Fukushima seien sie noch sicherer. Im Sommer wird ein Gesetz zur Vergütung regenerativer Energien verabschiedet.

Matsuzaki und seine Beamten empfangen im vierten Stock der Präfekturverwaltung. Hier arbeitet auch der Krisenstab in einem niedrigen Raum, in dem sich Schreibtische voller Papier, Drucker und Computer aneinanderreihen. Sie zählen hier Tsunami-Tote – 1.938 – und wegen der Strahlung Evakuierte oder freiwillig Weggezogene – 159.703 –, unterrichten Journalisten, bereiten in dekontaminierten Gebieten die Rückkehr von Flüchtlingen vor. Längst haben sie alle Evakuierten oder Tsunami-Opfer untergebracht, manche in regelrechten Kleinstädten aus Holz- oder Wellblechhäusern. Abteilungsleiter Matsuzaki nickt immer wieder kurz weg, wenn gerade einer seiner Mitarbeiter eine Frage beantwortet. Er trägt einen Button auf seinem Jackett: „Fight! Fukushima!“

„Wir alle sind Väter“, sagen die Beamten und nicken

Bis heute, sagen sie hier, sei noch niemand geschädigt aufgrund der Radioaktivität – rechnet man die zwei Arbeiter von Tepco nicht mit, die schwere Verletzungen erlitten, als ihnen hoch radioaktive Brühe in den Schutzanzug lief. Sie wissen hier aber auch, dass sich radioaktive Isotope langsam im Körper anreichern. Jod 131 hat erst Jahre nach Tschernobyl zu Tausenden Fällen von Schilddrüsenkrebs bei Kindern geführt, vor allem, weil sie verseuchte Milch tranken. Deshalb, versichern die Beamten, haben sie gleich nach dem Unglück dafür gesorgt, dass nur unbelastete Milch verkauft wird.

Ihre Schutzmaßnahmen koordinieren sie mit Stapeln von Aktenordnern, Datenreihen über radioaktive Isotope an mittlerweile 2.000 Messstationen in der ganzen Präfektur. Korrektur: 2.700 Messstation, schreiben sie ein paar Tage später per Mail.

Sie präsentieren diese Zahlen wie Entlastungszeugen gegen ihr eigenes Gewissen.

Man kann ihnen Chieko Shiinas Fragen stellen.

Was sagen sie zu den besorgten Müttern? „Wer wegziehen will, kann das doch tun.“ Was passiert, wenn Kinder jahrelang erhöhter Strahlung ausgesetzt werden? „Die Auswirkung dieser extrem niedrigen Strahlung auf den Körper kennt man nicht genau. Da muss Forschung betrieben werden. Vor allem muss den Leuten vermittelt werden, dass das nach gegenwärtigem Stand des Wissens ungefährlich ist.“ Sollte man nicht aus Vorsicht Kinder evakuieren? „Wir unternehmen alles in unserer Macht Stehende, das nichts passiert. Wir kontrollieren jedes Lebensmittel. Wir alle sind Väter, auch unsere Kinder wachsen hier auf.“ Die Beamten nicken einmütig.

Was soll man nun in Deutschland erzählen? Kann man außerhalb der evakuierten Gebiete bedenkenlos leben?

Auf einmal weicht die Reserviertheit spontaner Freude, Matsuzaki kommt von seiner Seite der Tischreihe mit einer Broschüre „Beautiful Fukushima“ herüber und breitet eine Karte aus: Schauen sie, da ist das Atomkraftwerk, in dem Radius ist es verstrahlt und hier auch, wegen des Windes. Sonst ist es wunderschön bei uns, dort ist der Inawashiro-See, mit dem malerischen Gipfel des Bandai, oder dort die historische Stadt Aizu-Wakamatsu, in der man den Geist der alten Samurai erleben kann. Die Kinder könnten jetzt wieder unbedarft draußen spielen, sagt Matsuzaki.

Im Shinhama-Park ist eine dieser solarbetriebenen Messstationen aufgebaut, sie zeigt 0,27 Mikrosievert Strahlung pro Stunde an. Für diese Lage sind das nur minimal erhöhte Werte. Vor einem Jahr gingen die Bilder des Parks um die Welt, weil Arbeiter in Schutzanzügen die Erde abtrugen, der Platz war verseucht. Heute fehlt der Rasen und im Boden steckt ein Schild, dass den Kindern das Spielen verbietet. Wegen Ruhestörung.

Mit ihrem Zelt sitzt Chieko Shiina im Zentrum der Macht – vor dem grauen Wirtschaftsministerium

In Chieko Shiinas Zelt in Tokio zeigt ein Transparent ein Mädchen und einen Jungen, gemalt in geschwungenen schwarzen Strichen, über ihnen zwei schützende Hände, die sie vor roten Partikeln schützen – vor der Radioaktivität. In der Präfektur sagen sie, dass sie die Schilddrüsen aller 360.000 Kinder und Jugendlichen regelmäßig untersuchen. Das gleiche einem riesigen Freilandversuch mit Menschen, sagen die Mütter von Fukushima.

In einer Frage allerdings sind Aktivisten und Präfektur einig: Beide wollen aus der Kernenergie aussteigen.

Verantwortlich wäre Yukio Edano, der Wirtschaftsminister. Der Mann, der sich vor einem Jahr im Blaumann vor die Weltpresse stellte und erklärte, wie es um die Meiler in Fukushima steht. Edano kann nur nicht, wie er will, glaubt Chieko Shiina. Weil im Land Beamte herrschen, die später gut bezahlte Jobs in der Atomindustrie bekommen, wenn sie hie und da ein Auge zudrücken. „Edano ist im Herzen gegen Atomkraft“, hofft sie.

Wenn es dunkel ist, huschen Männer ins Zelt

Manchmal bleibt eine Limousine mit getönten Scheiben eine Weile in der Nähe des Zelts stehen. Der Wagen des Ministers?

Liest er, was auf dem Zelt steht? „Lass die Atomkraftwerke doch einfach abgeschaltet.“ Schön wär’s, sagt Shiina. Sie wollen hier ausharren, bis ihre Forderungen erfüllt sind. „Wir haben in Japan ein Sprichwort: Der Ozean entstand aus einem Tropfen“, sagt Shiina. Draußen vor dem Zelt warten auf Shiina Termine und diese kleine Furcht: Dass nach dem Jahrestag von Fukushima ihre Anliegen wieder vergessen werden. Weil die Menschen lieber an die verordnete Sicherheit glauben, statt sich ihrer Angst zu stellen.

Aber manchmal, wenn es schon dunkel ist, erzählt Shiina, kommt einer dieser Beamten aus dem Wirtschaftsministerium mit seinem Aktenkoffer zu ihnen ins Zelt gehuscht. Er wirft ein paar Yen in die Spendenbox am Eingang und erweist mit knappen Worten seinen Respekt für die Mütter von Fukushima.

Es passiert immer wieder. Tropfen für Tropfen.

Ingo Arzt, 33, ist taz-Redakteur und fragt sich, wie Anti-Atom-Aufkleber der taz in Shiinas Zelt kamen

Felix Milkereit, 33, Japanologe und taz.de-Blogger, hat für diesen Text recherchiert und übersetzt