Zu Hause in Berlin

Draußen sitzen und Schmelzkäse betrachten: Seit zehn Jahren stiften Berliner Lesebühnen Identität, erfreuen durch Alltagsgeschichten, Aktualität und Spontaneität. Ein Überblick zum neuesten Stand

VON ANNE KRAUME

Meine Schwester Sophie lebt noch nicht lange in Berlin. Ob ihre Begeisterung für Lesebühnen damit zu tun hat, weiß ich nicht – möglich ist es. Jedenfalls stellt auch Christoph aus Heidelberg eine Verbindung her zwischen der Stadt und ihren Lesebühnen: Sophie und ich treffen ihn am Sonntagabend im Kaffee Burger bei der Reformbühne Heim & Welt. Christoph kommt schon seit sechs Jahren immer wieder zur Reformbühne nach Berlin: „Die Themen bei den Lesungen sind zwar inzwischen weniger Berlin-spezifisch als früher, aber trotzdem sind die Lesebühnen so nur hier in Berlin möglich!“ Sogar altgediente Berliner scheinen das ähnlich zu sehen. Im Gästebuch der Reformbühne zum Beispiel verlieh vor einigen Wochen eine Nikol ihrer Begeisterung Ausdruck, indem sie schrieb: „Danke! Jetzt weiß ich wieder, warum ich meine Stadt so mag!“

Meine Schwester Sophie klappert nun die Berliner Lesebühnen ab – die Reformbühne ist eine der ältesten unter den noch bestehenden, Anfang des Jahres hat sie ihren zehnten Geburtstag gefeiert. Älter ist nur Dr. Seltsams Frühschoppen, der sich im Januar aufgespalten hat in Dr. Seltsam einerseits und den Frühschoppen andererseits. In den letzten Jahren sind immer neue Bühnen hinzugekommen; manche sind schnell wieder verschwunden, andere haben überlebt und ziehen inzwischen ebenso viel Publikum an wie die „Urlesebühnen“ – oder sogar noch mehr. Die Chaussee der Enthusiasten zum Beispiel gibt es schon seit 1999; seit drei Jahren füllen sie im RAW-Tempel in Friedrichshain eine riesige Halle mit ihren Fans. Die Brauseboys lesen seit zwei Jahren im Wedding, die Erfolgsschriftsteller im Schacht wenig länger in Mitte, im letztem Herbst sind die Überflüssigen in Kreuzberg hinzugekommen. Und schon seit 2000 findet jeden Samstag in der Kulturbrauerei in Prenzlauer Berg mit dem Kantinenlesen das „Gipfeltreffen der Berliner Lesebühnen“ statt, an dem Autoren von unterschiedlichen Bühnen in unterschiedlichen Besetzungen lesen. Meine Schwester Sophie ist gut beschäftigt.

Was es mit diesen Lesebühnen auf sich hat, darüber kann Dan Richter Auskunft geben, der samstags das Kantinenlesen moderiert, donnerstags bei der Chaussee der Enthusiasten liest und überhaupt schon lange im Geschäft ist. Auf die Frage, was so eine Lesebühne eigentlich sei, sagt er: „Mehrere Leute stehen auf der Bühne und tragen kurze Sachen vor.“ Er fügt dann noch hinzu, dass die Autoren einer solchen Lesebühne üblicherweise eine geschlossene Gruppe bilden, die sich dann in regelmäßigen Abständen zu ihren Lesungen trifft, meistens einmal in der Woche. Und damit hat er alles erklärt. Die Lesebühnenabende haben wenig gemein mit dem, was man sich sonst unter Literaturveranstaltungen so vorstellt. Die Geschichten hier sind kurz, meistens witzig, oft aktuell, bisweilen politisch. Es wird außerdem häufig gesungen, manchmal gereimt, immer geplaudert. Und nebenher raucht man und trinkt Flaschenbier. Meine Schwester Sophie findet, das sei wie ein entspanntes Konzert, nur dass eben gelesen wird.

Die Erfolgsschriftsteller im Schacht gibt es noch nicht so sehr lange, ihre Besetzung hat zwischendurch variiert. An diesem Frühlingsabend sind die Reihen nur spärlich besetzt. Das liege daran, witzelt Thilo Bock als Conférencier, dass ein großer Teil des Stammpublikums eben aus glaubensstarken Katholiken bestehe, und die seien nun alle unterwegs nach Rom, zur Papstbeerdigung. Passend zu den Umständen liest Thilo dann auch den „katholischsten Text“, den er je geschrieben hat. Der Titel lautet „Wie Gras und Ufer“, und wem bei diesem Titel ebenso schlagartig die Schülergottesdienste seiner Jugend einfallen wie Sophie und mir, der wird an der hinterhältigen Geschichte viel Freude haben: Die KJG- Singegruppe Kleinlüder, bestehend aus Ingo, Jessica, Veronika, Steffi und den beiden Annas, zieht mit ihren fröhlichen Liedern in die ferne Großstadt zum Kirchentag. Als dann jeder einzelne von ihnen aber die Feststellung machen muss, dass auch jeder andere aus der Gruppe eine ganz besondere Beziehung zu Pfarrer Klappenbrot pflegt.

Geschichten wie diese leben vom Vorlesen. Thilo macht das ganz fabelhaft – mit verstellter Stimme teilt er sich zwischen den einzelnen Rollen auf, mit wenig Aufwand deutet er die Lieder der jungen Christen an, und mit viel Tempo steuert er zum Schluss auf den fiesen Höhepunkt der Story zu. Falko Hennig von der Reformbühne sagt, man merke den Geschichten oft an, dass sie für den Vortrag geschrieben werden: „Die Texte sind ausgerichtet auf die direkte Resonanz beim Publikum – und meistens tut ihnen das auch gut, weil sie dadurch beweglicher werden.“ Andererseits würden viele der Geschichten, die ursprünglich für die Bühne entstanden sind, später dann doch noch irgendwo in schriftlicher Form veröffentlicht, erklärt er: „Und das funktioniert auch.“ Manche Autoren, die irgendwann bei einer Lesebühne angefangen haben, werden so mit ihren publizierten Texten über Berlin hinaus bekannt – der wohl bekannteste unter ihnen ist Wladimir Kaminer. Trotzdem: Gerade die direkte Rückkopplung ans Publikum prägt einen richtigen Lesebühnentext. Tilman Birr, der an diesem Sonntag als Gast bei der Reformbühne liest, sagt dazu: „Man merkt sofort, wenn etwas nicht funktioniert, und kann das dann noch während des Vortrags spontan verändern – oder notfalls ganz streichen.“

Das mit dem Funktionieren ist so eine Sache: Die Gefahr des Scheiterns steht natürlich fast immer im Raum, wenn ein Autor einen Text zum ersten Mal liest. Oft entscheidet sich das Schicksal des Textes und des Autors dabei in den ersten Augenblicken: Wenn die Lacher kommen, dann ist alles gut. Wenn nicht, wenn die Pointen versickern und das Publikum aussteigt, dann können ein paar Minuten verdammt lang sein. Das gehöre aber unbedingt dazu, meint meine Schwester Sophie: Erstens mache das die Aura von Unmittelbarkeit der Lesebühnen aus, und zweitens wisse man nach so einem missglückten Beitrag einen gelungenen erst wieder so richtig zu schätzen.

Dabei ist es oft der ganz persönliche Alltag des Lesebühnenautors mit seinen Abgründen, seiner Absurdität und Banalität, der in witziger, anekdotenhafter, zugespitzter Form präsentiert wird. Viele der Geschichten sind in der Ichform geschrieben und erzählen von nichts anderem als eben von diesem Ich. Ein Fallschirmsprung als Geburtstagsgeschenk von Mutter und Schwester. Erlebnisse mit der Telekom. Draußen sitzen in der Sonne. Ewig haltbarer Schmelzkäse im Kühlschrank. Und in den meisten Fällen funktioniert dieses erlebnishafte Erzählen aus dem Alltag, weil das Publikum die Erlebnisse kennt, die Schlussfolgerungen teilt und die Komik nachvollziehen kann. Das Wirgefühl der Gruppe von Autoren dehnt sich auf das ganze Publikum aus, und dieses Publikum weiß das zu schätzen. Meine Schwester Sophie fühlt sich übrigens auch schon ganz zu Hause in Berlin.

Erfolgsschriftsteller im Schacht, jeden Montag 21 Uhr im Bergwerk, Bergstraße 68; Die Überflüssigen, jeden Dienstag 21 Uhr im Privatclub Berlin, Pücklerstraße 34; Chaussee der Enthusiasten, jeden Donnerstag 21 Uhr im RAW-Tempel, Revaler Straße 99; Kantinenlesen, jeden Samstag 20 Uhr in der Alten Kantine der Kulturbrauerei; Reformbühne Heim & Welt, jeden Sonntag 20.15 Uhr im Kaffee Burger, Torstr. 60