Über den Fluss und in die Welt

Keine Ironie, sondern pure Aufrichtigkeit, die wiederum zu purer Ratlosigkeit führt: Der britische Erfolgsschriftsteller Tim Parks hat mit „Weißes Wasser“ einen Abenteuer-Antiglobalisierungs-Liebes-und-Sport-Roman geschrieben

Achtung, akute Protagonistenhäufung gleich im ersten Kapitel! Michela, Clive, Vince, Louise, Keith, Mandy, Adam, Amelia, Amal, Mark, Max, Tom, Phil, Brian und Caroline. Sechs Erwachsene und neun Jugendliche sind es, die sich in Tim Parks neuem Roman „Weißes Wasser“ auf einem Campingplatz in den italienischen Alpen zusammenfinden, um im heißesten Sommer eine Woche lang in reißenden Gebirgsflüssen Kajak zu fahren. Kein Erholungsurlaub, wie der Gruppenleiter vom Britischen Kanuverband betont, sondern ein Gemeinschaftsprojekt! Die Wassersportler sollen ihr Können verbessern, füreinander da sein und gleich noch den richtigen Umgang mit der Natur erlernen: Zen und die Kunst, nicht gegen das Wasser zu kämpfen.

So stellen sich das zumindest die beiden Kanu-Coachs Clive und Michela vor, er ein charismatischer Naturbursche in den Enddreißigern, sie seine jüngere italienische Freundin. Gemeinsam waren sie kurz zuvor auf einer Antiglobalisierungsdemo in Mailand, auf der zwei Menschen im Polizeikessel umgekommen sind. Jetzt lässt Clive seine Kursteilnehmer wissen, dass „wir unsere Arbeit hier als Teil der gleichen Kampagne betrachten“, nämlich „den Menschen Respekt vor der Welt zu vermitteln, ehe es zu spät ist“. Andere sind da skeptisch. Zum Beispiel Vince, ein erfolgreicher Banker aus London, der nur dabei ist, um endlich ein wenig Zeit für seine Tochter Louise und zum Nachdenken über seine kürzlich verstorbene Frau zu finden. Oder der Spießer Adam, der seinen Sohn Mark nicht ehrgeizig genug zum Kayaking antreiben kann und Clives ökologischen Antikapitalismus schlichtweg für schwachsinnigen Mystizismus hält. Und den schwer pubertierenden Jugendlichen im Team geht es eher darum, eine „geile Zeit“ auf dem Wasser und beim Zelten zu haben.

„Weißes Wasser“ ist so etwas wie ein Abenteuer-Ferien-Antiglobalisierungs-Liebes-Roman. Von der ersten Seite an ist der Leser (auch als Kajak-Laie!) sofort begeistert über das erfrischend andere Thema und folgt der temporeichen, spannenden Handlung wie in einem rauschenden Fluss über alle Krisen, Konflikte und Untiefen hinweg, bis man sich am Ende doch etwas ratlos irgendwo am Ufer wiederfindet.

Denn Tim Parks, der seit langem in Verona lebende Italienbeauftragte der britischen Literatur, dem hierzulande trotz größten Kritikerlobs noch ein eigenartiger Status zwischen Bestseller und Geheimtipp zukommt, versucht hier etwas Neues, mit ungewissem Ausgang. In der Regel zeichnen sich seine Romane dadurch aus, dass sich die eigentliche Action im Kopf eines ebenso hochnervösen wie ironischen Ich-Erzählers abspielt. In „Weißes Wasser“ gibt es nun einen vielstimmigen Chor an Personalperspektiven, von denen jede mal ein paar Gedanken in der ersten Person Singular beisteuert – selbstverständlich wird auf jegliche direkte Rede indizierende Interpunktion verzichtet. Aber bemerkenswerter ist die Ernsthaftigkeit, fast Fairness, mit der Parks selbst den verschrobensten Globalisierungsgegner zu Wort kommen lässt, auch der sentimentalsten Verzweiflung ihre Berechtigung zugesteht.

Das schrammt dann in der ideologischen Konfrontation schon mal mit Adorno knapp am Klischee vorbei: „Das ist nicht die richtige Welt für uns“, sagt Clive seiner Freundin Michela, schwer getroffen von den Mailänder Toten, aufrichtig deprimiert ob der Auswirkungen der Erderwärmung. Und er beschließt, sie fortan nicht mehr anzurühren.

Tim Parks schreibt das einfach so hin, ohne eine Spur von Ironie und mit einer scheinbar dem Wesen des Kajaksports geschuldeten Aufrichtigkeit. Sport ist nicht ironisch, aber immer eine Metapher wert. Also stürzt Parks sich detailversessen in die Fluten, nachdem er in einer Vorbemerkung („Vorsicht, Kanuten! Dieses Buch ist kein Flussführer“) sicherheitshalber darauf hingewiesen hat, dass die „landschaftlichen Zusammenhänge und Gegebenheiten“ der Romanhandlung angepasst seien.

Parks ist dennoch kein naiver Erzähler, der den Sport mit seinen Gemeinschafts- und Naturerfahrungen verklären würde. Am Ende bleibt der melancholische Vince, längst zur Hauptfigur der Gruppenreise avanciert, allein mit Michela in den Bergen zurück und wird von ihr mit seiner Kajakbegeisterung auf den Boden zurückgeholt.

Mit dieser Ernüchterung ist aber gleichzeitig das Roman-Ende, das so vorhersehbar offen bleibt, dass man es ebenso gut gleich verraten könnte, eine Enttäuschung. Allerdings eine von der Sorte, von der man lange nach der Lektüre noch nicht weiß, wie man sie finden soll: Man spürt, dass es Parks ernst ist mit der Hoffnung, die er trotz allem vermitteln will. Aber so richtig findet er aus der einmal gewählten Aufrichtigkeit nicht mehr heraus. Keine Ironie, pure Ratlosigkeit. ANDREAS MERKEL

Tim Parks: „Weißes Wasser“. Aus dem Englischen von Ulrike Becker. Verlag Antje Kunstmann, München 2005, 271 Seiten, 19,90 €