Der Traum von Ha-Neu

OSTSTADT Die Fotografin Anja Weber findet das Verwunschene von Halle-Neustadt

„Als wir 67 hergezogen sind, hab ich Gummistiefel getragen. Anders ging es nicht! Wir sind ja durch den Morast gelatscht. Das waren die ersten Jahre“

ELISABETH REINICKE

VON ANJA MAIER

An sich, man muss das so sagen, ist diese Stadt immer noch nicht fertig. Und aller Voraussicht nach wird sie es nie. Nicht städtebaulich, nicht sozial, nicht identitär. Aufbau, Ausbau, Abriss – Halle-Neustadt war und ist immer im Übergang. Es gibt viele Gründe dafür und die hatten zu allen Zeiten mit Politik zu tun. Und mit den Möglichkeiten der jeweiligen Gesellschaft.

Am Anfang stand der Traum vom neuen Menschen. 1964 wurde der Grundstein für die „Sozialistische Stadt der Chemiearbeiter“ gelegt. Es war die Zeit des Aufbruchs, die Menschen im ersten Arbeiter-und-Bauern-Staat auf deutschem Boden sollten nicht mehr leben wie die Knechte. Sondern wie die Könige des 20. Jahrhunderts: trocken, zentralbeheizt, gemeinschaftlich. Kurze Wege für alle, zur Schule, in die Kaufhalle und – am wichtigsten – in die nahe gelegenen Chemiefabriken in Buna-Schkopau und Leuna.

„Ich habe nie begriffen, in meinem Innersten nicht begriffen, dass man diese Stadt als Steinstadt, als Trabantenstadt, als, na ja, ‚Platte‘ bezeichnet“

ILSE LUTHER

Ein wagemutiges Konzept, und doch genoss die 100.000-Einwohner-Siedlung fortwährend einen mäßigen Ruf. Der rührte aus dem, was dieser Stadt weggespart wurde: das Schöne. Die DDR-Planwirtschaft wischte den Warenhausbau vom Tisch, ebenso das Rathaus, ein Hotel, das Kulturhaus. Dies Reduzierte fand selbst in der Sprache Niederschlag. „Ha-Neu“ nannten die Leute ihre Stadt, die Wohnkomplexe hießen „WK“. Sogar die Straßennamen sparte man sich, stattdessen wurde die ganze Stadt nach einem undurchschaubaren Prinzip durchnummeriert. Heimat ist anders.

Die Berliner Fotografin Anja Weber ist gemeinsam mit der Architektin Saskia Hebert noch einmal in diese Stadt gereist. Ihren Beitrag zum Ideenwettbewerb „Schrumpfende Städte“ der Bundeskulturstiftung nennen sie „Die Weite des Blicks – Erinnerungen aus der Stadt der Zukunft“. Sie haben nachgeschaut, wie die Menschen leben in einem sich auflösenden Gemeinwesen. Nach der Wende hat jeder Zweite Bewohner die Stadt verlassen, das ist Rekord. Wo es keine Arbeit gibt, ist nun mal kein Bleiben.

„Es war für uns der Fortschritt, das Moderne überhaupt. Ich brauchte keinen Ofen mehr zu heizen, wir hatten warmes und kaltes Wasser“

KÄTHE TARABA

Weber hat in ihren Fotos einen anderen Blick gewagt. Ihr Halle-Neustadt erscheint als Traumlandschaft. Die Farben wie koloriert, die Perspektiven so weit, dass die Ränder verwischen, Menschen, Autos als sparsame Details. Etwas Unfertiges liegt in diesen Bildern, als schaue man durch Panzerglas eine Modelleisenbahnlandschaft an. Weiterer Ausbau nicht ausgeschlossen, Abbau aber auch nicht.

Weber und Hebert haben auch die Generation der Erstmieterinnen befragt. Drei Porträts sind hier zu sehen, anders als die Stadtlandschaften sind sie tiefenscharf fotografiert. Die Rentnerinnen erzählen davon, wie gern sie in ihrer Neustadt leben. Immer noch. Es ist ihre Stadt, es ist ihr Leben. Was soll daran falsch sein?

■ Anja Weber, Saskia Hebert: „Die Weite des Blicks – Erinnerungen aus der Stadt der Zukunft“, 2004 www.anjaweber.com