„Ich glaube an Argumente“

Ingeborg Junge-Reyer

„Wenn es nötig ist, mal Zack zu sagen, dann mache ich das. Als ständiges Stilmittel ist das aber nicht erforderlich. Ich werde nichts Spektakuläres um des Spektakulären willen tun“

Umfragen zufolge hat Ingeborg Junge-Reyer in der Beliebtheitsskala Klaus Wowereit den Rang abgelaufen. Das ist das eine. Das andere: Nur knapp die Hälfte der Befragten kann mit dem Namen der amtierenden SPD-Bausenatorin etwas anfangen. Geschätzt, aber unbekannt – im Falle von Junge-Reyer ist das nicht überraschend. Denn über sich spricht sie nicht. Öffentlich ist nur, was alle wissen: dass sie 58 Jahre alt ist und seit Jahren mit ihrem Mann in einer WG lebt. Viel mehr gibt sie nicht preis. Ihr reales Leben dagegen ist Arbeit. Zuverlässig, gründlich und schnell. Ihre Kollegen und Kolleginnen schätzen an ihr, dass sie keine Profilneurosen hat. Darauf angesprochen meint sie: „Ich habe Profile, wozu brauche ich Neurosen?“

INTERVIEW WALTRAUD SCHWAB

taz: Frau Junge-Reyer, hinter Ihrem Schreibtisch hängt ein Foto von Berlin und auf der anderen Seite des Raums ein Gemälde des Berliner Malers türkischer Herkunft Hanefi Yeter. „Analphabeten in zwei Sprachen“ heißt es. Sind die beiden Bilder die Koordinaten, zwischen denen Sie Ihre Arbeit ansiedeln?

Ingeborg Junge-Reyer: Sicher. Sie stehen für Gestaltung, für soziale Stadtentwicklung. Der Mensch soll dabei nicht aus den Augen verloren werden.

Soziale Stadtentwicklung – das Wort ist en vogue.

Wir müssen sehen, wo die Gebiete sind, in denen sich Bevölkerungsstrukturen negativ verändern, weil es den Menschen schlechter geht, weil Einkommen sinken und Arbeitslosigkeit zunimmt. Dort müssen wir präventiv intervenieren.

Wo verändert es sich gerade zum Schlechteren?

In einigen Großsiedlungen. Etwa in Spandau und am westlichen Innenstadtrand. Auch in Neukölln.

Dort etwas umzugestalten – ist das die Politik der kleinen Schritte?

Verhindern, dass die Situation schlimmer wird, und die Bevölkerung dabei unterstützen, sich zu emanzipieren, sich zu integrieren, sich zu vernetzen – das mag nur mit kleinen Schritten zu bewerkstelligen sein, ein großes Ziel ist es dennoch.

Kommen bei dieser Form von Stadtgestaltung Ihre eigenen Visionen zum Zug?

Wir haben erstaunliche Informationen über die Bevölkerungsentwicklung. So treten wir etwa international in den Wettbewerb um junge, gut ausgebildete Leute. Für sie ist Berlin hoch attraktiv. Zukunftsorientiert gedacht, heißt die Frage: Welche Chancen kann die Stadt dauerhaft bieten? Ich kann keine Arbeitsplätze schaffen, aber ich kann Ressourcen aufzeigen, die wir haben: Räume, Orte, Zwischennutzungen, Perspektiven, wo und wie man was machen kann.

Ein Beispiel, bitte.

Wir haben eine große Veranstaltung – ein Stadtforum – zum Thema Einzelhandel durchgeführt. Da wurde intensiv darüber gesprochen, an welchen Standorten eine Neuansiedlung von Einzelhandelsflächen möglich gemacht werden kann und wo die Politik nein sagen soll.

Einzelhandel – meinen Sie damit Einkaufscenter oder die kleinen Geschäfte?

Beides. Man sagt, die bisherigen Einkaufsstraßen werden immer leerer. Es gibt keine kleinen Läden mehr. Die Leute bedauern das, und gleichzeitig fahren sie in ein Rieseneinkaufszentrum. Das Verhalten von Menschen kann man da nicht beeinflussen.

Doch: Indem Sie keine weiteren Einkaufszentren zulassen.

Richtig. Solche Verabredungen konnte ich mit denen treffen, mit denen diese Diskussionen geführt wurde. Wann wird Politik aufgefordert, nein zu sagen? Selten. Das stärkt mich in der Frage, wo wir was in Berlin fördern und wo nicht. Wir wollen die Stadt für die Menschen gestalten, und dazu gehört auch, darauf zu achten, wo etwas kaputt gehen könnte.

Haben Sie schon mal nein gesagt?

Sicher.

Sagen Sie mir, wo Sie nein gesagt haben?

Nein.

Macht man sich angreifbar, wenn man nein sagt?

Wenn man entscheidet, macht man sich angreifbar, egal ob mit ja oder nein.

Begeben Sie sich gerne in Situationen, wo Sie sich angreifbar machen? Als Sozialstadträtin in Kreuzberg nannte man sie „eiskalten Engel“.

Das glaube ich nicht, und es ist mir als Haltung nicht bewusst, weil ich mich selbst als eine empfinde, die zuhört, die sich beraten lässt. Aber ich folge natürlich nicht jedem Rat. Ich äußere mich nicht immer sofort, aber ich entscheide schnell. Ich glaube an die Kraft der Argumente.

Einige Leute vermissen an Ihnen das Draufgängerische, wie es Ihr Vorgänger betrieb.

Ich weiß nicht, ob man es wirklich vermisst. Ich erreiche meine Ziele auch so. Wenn es nötig ist, mal Zack zu sagen, dann mache ich das. Als ständiges Stilmittel ist das aber nicht erforderlich. Wenn ich etwas mache, mache ich das richtig und hundertprozentig, aber ich werde nichts Spektakuläres um des Spektakulären willen tun.

Sie setzen auf Diskussion?

Wie gesagt, ich möchte das Stadtforum wieder aufleben lassen. Da werden Diskussionen geführt über den Alltag hinaus. Berlin bekommt ganz viel Impulse von außen. Aber wie ermutigen wir die Leute, dass sie das, was sie von der Stadt oder der Politik erwarten, auch sagen und dass sie uns herausfordern?

Heißt das: Woran ein Bausenator bisher gemessen wurde, ist derzeit nicht relevant?

In Berlin gibt es private Investitionen, aber öffentlich wird nicht mehr so viel gebaut. Wir bauen keinen zweiten Potsdamer Platz, und die Hochhäuser am Alex entstehen auch nicht heute oder morgen. Die Entscheidung, dass der Alex ein Hochhausstandort ist, ist dabei nach wie vor richtig. Wenn es in Berlin welche geben soll, dann dort. Aber die machen natürlich erst dann Sinn, wenn es für diese Nutzungskonzepte und Nutzer gibt, darüber sind wir uns mit den Investoren einig. Wir wollen keine leer stehenden Hochhäuser. Wichtig aber ist, sich dennoch nicht zurückziehen, sondern zu gucken, was am Alex passiert. Etwa dafür zu sorgen, dass die Planstraße mit den Parkplätzen dort umgestaltet wird und dass wir die Straßenbahn weiterbauen. Das sind dann kleine Schritte, die nicht spektakulär, aber notwendig sind.

Soll heißen: Die Bausenatorin Junge-Reyer macht keine großartigen Planungen, sondern sie versucht, Folgeprobleme der Planungen von früher in den Griff zu bekommen. Ein Folgeproblem eines großen Wurfs Ihrer Vorgänger ist etwa, den Verkehrsfluss am Holocaust-Mahnmal zu steuern.

Bleiben wir bei dem Beispiel: Ich analysiere den Verkehr. Wie ist er jetzt? Wie wird er perspektivisch sein? Was passiert, wenn die vielen Besucherbusse kommen? Wenn es dann erforderlich ist, alle davon zu überzeugen, dass die Französische Straße geöffnet werden muss, werde ich es tun. Aber ich werde mich erst mal selbst überzeugen. Und was Ihre Frage nach den großen Entwürfen betrifft – wo sind denn zurzeit welche möglich, die sich in Stein bauen lassen?

Ja, wo?

Das Land Berlin baut derzeit nicht. Wir bauen die Fachhochschule für Technik und Wirtschaft. Grade mal so. Aber wir qualifizieren den Bestand. Wenn ich sehe, dass am Alexanderplatz, am Bahnhof Zoo nicht investiert wird, obwohl die Voraussetzungen geschaffen sind, dann werde ich alles tun, dass sich dort etwas bewegt. Wenn am Lehrter Bahnhof noch mindestens fünf Baugrundstücke sind, bei denen die Eigentümer nicht wissen, was sie damit machen sollen in dieser herausragenden Lage, dann werde ich die unterstützen, um ihre Investitionen möglich zu machen. Aber ich stelle mich nicht hin und sage, da und dort sind noch unerschlossene Baulücken, da könnte dieses oder jenes hin. Die Verbesserung der sozialen Infrastruktur ist wichtiger als der Neubau.

Ihre Vorgänger, alle männlich, haben solche großen Entwürfe gemacht. Sie sind jetzt am Aufräumen.

Ich bin am Gelingen orientiert. Das ist nicht unbedingt Aufräumen.

Sie packen die Dinge an und sitzen nichts aus?

Etwas vorlegen und dann darauf hoffen, dass es da noch ein Vierteljährchen schmoren kann, kommt bei mir nicht in Frage.

Ist das keine wichtige Taktik im Umgang mit Macht? Nehmen wir mal Lobbyisten. Müssen Sie da nicht manchmal abwägen, ob Sie jemanden hinhalten?

Es ist völlig okay, dass Lobbyisten kommen. Aber ich äußere mich nicht beliebig, je nachdem, wer gerade da ist.

Es geht nicht um Beliebigkeit, es geht um Taktik.

Beispiel Verkehrspolitik. Da gibt es Lobbyisten mit ganz divergierenden Interessen. Mal sind sie etwa für Umweltschutz und mal für Verkehrspolitik. Ich nehme aber doch nicht, je nachdem, wer vor mir steht, eine andere Haltung an, sondern ich sage ihnen, was meine Haltung zur Verkehrspolitik ist.

Welche ist es?

Mobilität und Gesundheit. Das geht beides, und wir müssen alles tun, damit es zusammenpasst.

Geht es mit Individualverkehr?

Bis zu einem gewissen Grad. Wenn wir klären müssen, wo wir Tempo 30 machen, dann tun wir das nach allen Regeln der Kunst. Ich will nicht mehr, dass jedes Bezirksamt Tempo-30-Zonen anordnet, aber eben nur bis zur nächsten Bezirksgrenze. Ich will ein Gesamtkonzept. Wo wird Lärm verursacht? Wo wird Staub verursacht? Danach richtet sich die Entscheidung. Deshalb werde ich nicht alle Hauptverkehrsstraßen zu Tempo-30-Zonen erklären, denn der Verkehr muss fließen. Deshalb gibt es auch keine verkehrsfreie Innenstadt. Aber wir können sagen: Leute, ohne Dieselrußfilter kommt ihr in absehbarer Zeit nicht mehr ins Zentrum.

Welche Rolle spielt Nachhaltigkeit bei Ihren Entscheidungen?

Was wir machen, muss Bestand haben, solange es wirkt. Das heißt nicht, dass nicht schon die nächste Generation sagt, das war falsch.

Finden Sie es richtig, dass Objekte nur noch in Abschreibungszeiträumen geplant werden? Müsste nicht so gebaut werden, dass es auch noch in 100 Jahren Bestand hat?

Schön wäre das, aber es ist vermessen zu glauben, Entwicklungen so voraussehen zu können.

Das erklärt dann auch das Desaster um die Topographie, überhaupt den Umgang mit Ruinen in Berlin?

Wir müssen überlegen, was die richtige Architektur für die Erinnerung an diesem Ort ist. Die Türme abzureißen war schon deshalb richtig, weil der Ort kein Denkmal für eine gescheiterte Baupolitik in Berlin werden soll.

Und die Mauer?

Wenn Sie die geweißte Mauerkopie am Checkpoint Charly meinen – die gehört nicht dahin.

Offenbar gibt es jedoch ein Bedürfnis, sich an die Mauer nicht nur auf akademische Weise zu erinnern.

Das stimmt. Das haben wir nicht richtig eingeschätzt. Jetzt müssen wir herausfinden, wie wir das Mauergedenken sinnvoll aufrechterhalten können.

Geht Ihnen die Umsetzung all dieser Probleme nicht manchmal zu langsam?

Geduld ist die schwierigste Form der Tapferkeit – den Spruch hab ich mir auf die Tür geschrieben – von innen.