Gebt das Netz frei

Das konservative Magazin „Nouvel Observateur“ kämpft in Frankreich für die Legalisierung von Tauschnetzen

Der Nouvel Observateur steht ganz sicher nicht im Verdacht, aufrührerische Ideen zu verbreiten. Das französische Wochenmagazin ist konservativ bis auf die Knochen, wenn es um die französische Innenpolitik geht. Aber es ist ein französisches politisches Magazin, deswegen kann man vor Überraschungen nie ganz sicher sein. Frankreich ist noch immer das Mutterland aller Revolutionen, davon ist offenbar gerade die Redaktion des Nouvel Obs zutiefst überzeugt, deshalb hat sie letzte Woche entschieden, zum Generalangriff zu blasen. Ein ganzes Dossier steht unter dem Titel „Special peer-to-peer“, der Aufmacher fordert nichts Geringeres als „Libérez la musique!“.

Befreit die Musik, heißt das auf Deutsch, und man fragt sich, warum gerade in Frankreich die Musik in Ketten liegen soll. Dass französische Radiosender gezwungen sind, feste Anteile französischer Musik zu senden, hat den Nouvel Observateur noch nie gestört – und wenn es um Computer geht, achtet das Blatt sonst streng auf die Sprachregelung der Académie française, die sämtliche englischen Wörter, die weltweit für unverzichtbar gehalten werden, ausmerzen will. Nur für „Peer-to-peer“ ist ihr offenbar noch nichts eingefallen, und die amerikanisch dominierte Musikindustrie ist auch in Frankreich dabei, die Tauschnetzfreunde zu verfolgen, die sie „Piraten“ nennt und für kriminell hält. Etwa 500 Verfahren sind angekündigt, das erste ging Anfang des Jahres mit einem Urteil gegen einen Lehrer zu Ende, der über 10.000 Titel für Tauschpartner zugänglich gemacht haben soll. Er muss 10.000 Euro Schadenersatz und eine Strafe von 3.000 Euro bezahlen.

Eigentlich ist ein solches Urteil nicht überraschend, bei 10.000 Musikstücken wäre vermutlich auch die Bagatellgrenze des gelegentlichen Online-Tauschs überschritten, die nach dem Entwurf des neuen Urheberrechts in Deutschland eingeführt werden soll. Aber wir sind in Frankreich, und dort geht das Volk auf die Straße, wenn es findet, dass es nun reicht. Oder der Nouvel Observateur die Kultur der grande nation in Gefahr sieht. Oder die Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit: 19.000 Leser haben bis heute den Aufruf des Blatts unterschrieben.

Angeführt werden sie von namhaften Künstlern der französischen Szene. Sie alle bekennen, selbst schon mal kostenlos Musik aus dem Netz geholt zu haben, verurteilen die „unverhältnismäßig repressive Politik“, fordern ein Ende der „absurden Strafverfolgung“ und verlangen eine öffentliche Debatte aller Beteiligten, um zu einer „gerechten und zeitgemäßen Antwort“ zu kommen.

Die Argumente des Nouvel Observateur sind nicht neu, sie laufen alle darauf hinaus, dass die Freiheit der Person auch das Recht auf private Kopien einschließe. Neu ist, dass sie nicht mehr nur in den einschlägig bekannten Zirkeln vertreten werden. Die Tauschnetze stehen in Frankreich ab sofort auf der Tagesordnung der großen Politik.

In Deutschland kungeln selbst ernannte Experten in Kommissionssitzungen und Hinterzimmern. Selbstverständlich wird dabei nie etwas Vernünftiges herauskommen. In Frankreich vielleicht schon. NIKLAUS HABLÜTZEL