Das vorletzte große Ding

Viel Sex, viel Selbstironie, viel Weizenbier: Stefan Wimmer erzählt in „Die 120 Tage von Tulúm“ vom Leben der Thirtysomethings

Interessante Frage: Wie hat man es eigentlich geschafft, die Neunzigerjahre zu überleben? Den Wahnsinn eines geisteswissenschaftlichen Studiums. Die Kontaktaufnahmen zu höheren Töchtern, die nach dem Abitur in Salem zum Spaß das Gleiche studierten, um dann doch lieber standesgemäß zu heiraten. Die letzten gemeinsamen Ferien mit den Eltern in der Provinz. Das Erschleichen von Auslandsstipendien und die damit verbundenen Irrungen und Wirrungen zwischen Studentenwohnheim und Backpacker-Jetset. Überhaupt: das ganze Gealke und Gesumpfe, die billigen Drogen und die sexuellen Frustrationen …

Nun, zumindest der Münchner Stefan Wimmer, 35, der schon als TV-Produzent in Mexiko, als Playboy-Redakteur und als freier Autor für SZ und Men’s Health gearbeitet hat, erinnert sich in seinem Geschichtenband „Die 120 Tage von Tulúm“ noch lebhaft an diese Zeit. Zum Beispiel in der Eröffnungsgeschichte „Der zu vernachlässigende Unterschied zwischen Jim Morrison und Rainhard Fendrich“, in der der Ich-Erzähler sein „sexuelles Stalingrad“ im Winter 1993/94 erlebt: „Klirrende Kälte lag über der Stadt. Schon seit Monaten war jeder Erfolg bei Frauen ausgeblieben. Die Versorgung mit Sexualpartnern hatte bereits im September begonnen, kritisch zu werden, als sehr früh Bodenfrost einsetzte.“

Mitten in dieses erotische Elendsszenario platzt Leoni, die scharfe Schwäbin aus der Germanistik-Vorlesung, in die der Erzähler – eher gemütlicher Schellingsalonsozialist denn großer Aufreißer – sich sofort verknallt, obwohl sie bereits fest „dem Äl“ versprochen ist, einem reichen Enddreißiger aus der Computerbranche. Wie der Held dann trotzdem nichts unversucht lässt, das Herz der großen Kinogängerin („Lieblingsfilm ‚Dirty Dancing‘“) und leidenschaftlichen Drum-’n’-Bass-Tänzerin („in ihren Worten: Drammen Bess“) zu gewinnen, das ist nicht nur ergreifend peinlich, sondern auch todlustig.

Wirklich neu ist an Stefan Wimmers Geschichten aus den Neunzigerjahren allerdings nichts. Eher gewinnt man den Eindruck, dass der Autor mit ihnen noch vor fünf Jahren das nächste große Ding hätte sein können. Dafür sind sie jetzt umso schöner abgehangen und fast schon nostalgisch. Die Grundhaltung ist lebensbejahend, solange nur genügend „Sex, Selbstironie und Alkohol“ vorhanden sind, die „mächtigsten Waffen“ im Kampf gegen überall lauernde „Tengelmann-Kampfschwadrone, Künstlerinnen mit bizarren, französisierenden Kriegsnamen und all die anderen Wahnsinnigen, die eigentlich schon lange entmündigt hätten werden müssen, aber sonderbarerweise immer noch ihr Unwesen trieben“. Selbst in Mexiko bleiben Wimmers Protagonisten sich treu und pflegen ihr Bukowski-Faible für Kneipenbekanntschaften mit durchgeknallten Intellektuellen und erfahrenen Halb-Prostituierten.

Aufschneiderei ist dem selbst ernannten Hunter-S.-Thompson-Epigonen dabei nicht fremd, aber sie hat immer die erfrischende, bisweilen etwas laute Großmäuligkeit des bayrischen Weizenbiertrinkers. Und ganz so cool, wie es der autobiografische Gestus einiger Storys nahe legt, ist der Autor dann doch nicht. Eine Geschichte ist nach dem Song „Heaven“ benannt, der laut Wimmer angeblich vom hippen David Byrne stammt. Blöd nur, dass das Lied in Wirklichkeit von Simply Red ist: „Everyone is trying to get to the bar“. Das war also auch schon so vor seiner Zeit.

ANDREAS MERKEL

Stefan Wimmer: „Die 120 Tage von Tulúm“. Geschichten. Maas Verlag, Berlin 2005, 316 Seiten, 12 Euro