Romantische Reise

In einem abgelegenen Schloss: „Maison de Santé“, eine Koproduktion des Theaters zum Westlichen Stadthirschen und des Theaters Thikwa, hat sich einer Erzählung Edgar Allen Poes angenommen. Es geht um die vergebliche Suche nach Aufklärung

VON ANNE KRAUME

Der Weg bis in die Provence ist weit, wenn man wie wir aus Berlin kommt. Wir, das sind die Besucher eines Theaterstücks im Tacheles, das auf eine Reise einlädt. Die letzte Strecke des Weges haben wir zu Fuß zurückgelegt. Wir sind ja jung, gerade erst haben wir an der Charité das Medizinstudium abgeschlossen. Und das Reisen ist interessant – viele Erlebnisse konnten wir schon in unserem Tagebuch notieren!

Jetzt also sind wir unterwegs zu der Privatklinik, die Doktor Maillard in einem abgelegenen Château in der Provence eingerichtet hat. Man hört ja sehr viel über dieses Irrenhaus und über die humane Methode, nach der hier die Geisteskranken behandelt werden. Anders als die Professoren zu Hause, die die Patienten einfach verwahren, hat Doktor Maillard mit seiner fortschrittlichen Behandlungsmethode wirklich schon ganz erstaunliche Erfolge erzielt. Der Park um das Schloss herum ist verwildert, das Schloss selbst ein wenig baufällig, aber alles ist sehr ruhig gelegen und weitläufig. Und der Empfang des Monsieur Maillard hätte herzlicher nicht sein können! Heute Abend soll zuerst ein großes Dîner stattfinden, mit ihm und den Förderern der Klinik, und morgen will er uns die ganze Anlage zeigen.

„Maison de Santé“ ist eine Koproduktion des Theaters zum westlichen Stadthirschen und des Theaters Thikwa; die Geschichte eines jungen Medizinstudenten, der im Jahr 1830 auf der Suche nach fortschrittlichen Behandlungsmethoden aus Berlin in die Provence reist, basiert auf einer Erzählung von Edgar Allan Poe. Mit dem namenlosen Berliner Reisenden nehmen wir als stumme, aber eben nicht unbeteiligte Zuschauer an dem Abendessen der bunt gemischten Gesellschaft Teil. Die Princesse Annabelle de Beaulieu scheint hier so etwas wie die Seele der Klinik zu sein: Ihrer Familie hat das Schloss früher gehört, aber sie ist nach der Revolution die letzte Überlebende, und so hat sie ihren Besitz Maillard zur Verfügung gestellt. Der junge Berliner Reisende ist fasziniert: Während in der alten preußischen Schule die Kranken nicht selten noch nach herkömmlichen Methoden gequält werden, scheinen sich im aufgeklärten Frankreich nach der Revolution selbst die einstigen Adligen mit den bürgerlichen Medizinern gemeinsam der Heilung der Kranken verschrieben zu haben!

Immer mehr wächst die Irritation, die des jungen Reisenden und auch unsere, die wir mit ihm unterwegs sind: Die Prinzessin scheint sehr traumatisiert durch den Tod ihrer Familie unter der Guillotine. Was, wenn auch sie die Behandlung des Doktor Maillard nötig hätte? Und auch die bezaubernde Nichte des Doktors legt im Laufe des Abends immer seltsamere Verhaltensweisen an den Tag.

Diese Irritation und das wachsende Befremden sind Programm: Systematisch löst die Inszenierung von Werner Gerber die Grenzen auf zwischen dem, was allgemein als normal empfunden wird, und dem, was daneben verrückt erscheint. Der Text von Edgar Allan Poe in der Übersetzung von Arno Schmidt bietet dafür die beste Grundlage. Dass sich das Ensemble des Theaters Thikwa zusammensetzt aus Schauspielern „mit und ohne offiziell anerkannte Behinderungen“, ist nur eines von mehreren Elementen, die die scheinbar klaren Unterschiede zwischen Normalität und Anderssein in Frage stellen. „Vergessen Sie Ihren Sinn, dann gibt es auch keinen Wahn“, sagt Doktor Maillard im Laufe des Abends.

In der bizarren Welt der Maison de Santé hat das schon lange stattgefunden. Ob jemand hier zum Personal oder zu den Patienten gehört – das lässt sich nicht so einfach herausfinden. Die Bühnenfassung folgt dabei dem romantischen Zweifel, der im Zentrum von Poes Erzählung steht: Ist die Einteilung der Menschen in Normale einerseits und Verrückte andererseits gerechtfertigt? Ist es nicht einfach der Zufall, der darüber entscheidet, auf welcher Seite jemand sein Leben verbringt?

Im Laufe des Abends bei Doktor Maillard im Tacheles werden nun diese Zweifel zwar immer drängender, aber sie scheinen in ihrem romantischen Anspruch doch ein wenig aus einer anderen Zeit zu stammen. Und schließlich würde ihre logische Konsequenz, die Leugnung einer wie auch immer gearteten „Normalität“ nämlich, nicht zuletzt auch die Inszenierung der beiden Theater einer ihrer wesentlichsten Qualitäten berauben – ihrer kreativen und unbekümmerten Nichtnormalität eben.

In ihrem Bezug zur Sprache ergänzen sich die beiden Theater konsequent: Während sich die Schauspieler von Thikwa in der Regel gerade nicht mit literarischen Texten befassen und auch diesmal eigene Texte der Ensemblemitglieder eingestreut haben, arbeitet das Theater zum westlichen Stadthirschen seit Jahren oft mit literarisch avancierten Erzählungen.

Die Koproduktion lässt nun beide Formen des Umgangs mit dem Text miteinander ins Gespräch treten und erzielt nicht zuletzt dadurch ihre verunsichernde Wirkung.

„Maison de Santé“, bis 13. Februar, Do–So 20 Uhr, Tacheles