Suche nach der richtigen Formel

Auch wenn die Industrie sie mag – die EU-Chemikalienverordnung enthält noch logische Brüche. Die Kommission wird vielleicht einen neuen Entwurf vorlegen

BRÜSSEL taz ■ Judith Hackitt, die Chefin des britischen Verbandes der chemischen Industrie, verblüffte gestern die Zuhörer im EU-Parlament. „Was die chemischen Hersteller an REACH mögen“, lautete die fett gedruckte Überschrift ihres Sprechzettels. Als 2001 die EU-Kommission in einem Weißbuch darlegte, dass in Europa mehr als 100.000 Substanzen in Umlauf sind, deren Wirkung auf den menschlichen Organismus gänzlich unerforscht ist, hatte den Lobbyisten der Chemieindustrie an diesen Überlegungen zunächst rein gar nichts gefallen. Heute, so Hackitt, „unterstützen wir Ziele und Logik des REACH-Ansatzes hundertprozentig.“ Es werde endlich Rechtssicherheit geschaffen.

Den Mitarbeitern der Umweltverbände, die jahrelang gegen eine unbewegliche Verweigerungshaltung dieses Industriezweigs zu kämpfen hatten, dürften bei der Anhörung gestern im Europäischen Parlament die Ohren geklungen haben. Das neue Gesetz, so lobte Hackitt weiter, fördere die Innovationsbereitschaft der Unternehmen. Bislang nämlich können bereits existierende Stoffe ungeprüft verwendet werden, während für neue Stoffe strenge Zulassungsauflagen bestehen. Es ist also allemal billiger, eine alte Mixtur beizubehalten, als sie gegen ein neues, möglicherweise weniger giftiges Rezept auszutauschen.

Tritt das neue Verfahren in Kraft, werden alte und neue Stoffe gleichgestellt. Im Lauf der Jahre sollen alle Substanzen dokumentiert werden, von denen ein Produzent, Importeur oder Lieferant mindestens eine Tonne jährlich verwendet. Dabei geht es um 30.000 Stoffe. Bei einem Drittel dieser Stoffe, von denen zehn Tonnen und mehr pro Jahr verbraucht werden, sind die Auflagen wesentlich strenger. Ihre gesundheitlichen Wirkungen müssen genau erforscht werden.

Leider enthält der Kommissionsentwurf jede Menge logische Brüche. Importeure müssen nur dann die strengen neuen Auflagen erfüllen, wenn sie Grundsubstanzen in die EU einführen. Produkte aus Übersee gelangen ungetestet in den Handel und treten so in möglicherweise giftige, ganz sicher aber billige Konkurrenz zu europäischen Waren.

Problematisch ist auch, das Prüfungsverfahren von der verwendeten Menge abhängig zu machen. Warum sollen Mischungen, die keinerlei problematische Komponenten enthalten, aufwändig getestet werden, nur weil sie in großen Mengen verarbeitet werden? Warum werden nicht zuerst Stoffe getestet, die im Verdacht stehen, gesundheitsschädlich zu sein, und die in Putzmitteln oder Kosmetika verwendet werden?

Auch die Frage, wie einerseits Mehrfach-Tests vermieden und andererseits Betriebsgeheimnisse gewahrt werden können, ist im Gesetzentwurf nicht beantwortet. Kleine Betriebe sollen ihre Kosten für die Registrierung der verwendeten Substanzen dadurch senken, dass sie sich mit anderen zusammentun, die die gleichen Stoffe verwenden. Da sie dafür ihr bestgehütetes Kapital, die Rezepturen, mit der Konkurrenz teilen müssten, ist dieser Vorschlag der Kommission praxisfremd.

Ein Ausweg könnte darin liegen, dass eine EU-Agentur die Prüfung übernimmt, Betriebsgeheimnisse wahrt und für Unternehmen bis zu einer bestimmten Größe die Kosten übernimmt. Der neue Industriekommissar Günter Verheugen hat gestern angedeutet, die Kommission würde vielleicht den Gesetzentwurf noch einmal ganz neu formulieren. Umweltverbände fürchten aber, dass dann nicht nur die Kinderkrankheiten ausgemerzt werden, sondern oberste Richtschnur wird, die Industrie von Kosten zu entlasten – und die Verbraucher dafür einen hohen Preis zahlen.

DANIELA WEINGÄRTNER

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