Der scheue Astrologe

Horst Rausch ist ein großer Kenner der chinesischen Astrologie. Sie hilft ihm dabei, die Widersprüche in der Welt und im Leben der Menschen zu erklären. Bei ihm, der „beim Nachdenken eine Schlagseite hat“, sind Überraschungen inbegriffen

VON WALTRAUD SCHWAB

Horst Rausch weiß nicht, warum es so gekommen ist, dass er sich neben der wirklichen Welt immer noch andere Welterklärungen jenseits des Sichtbaren sucht. „Ich hab zum Nachdenken und Philosophieren eben eine Schlagseite. Das hat der Lehrer in der Schule schon gesehen.“

Seine Gedanken helfen ihm zu ordnen, was im Leben chaotisch daherkommt: dass Menschen so unterschiedlich sind, wie sie sind; dass es Leute gibt, die in der Mitte stehen, und andere, die am Rand bleiben; und dass die Geschichte mal in ruhigen Bahnen verläuft, dann aber wieder ausschlägt, ihre Streitwagen auffährt und alles zerstört, niederbrennt, auslöscht, was war. So wie er es erlebt hat als Kind.

Dank seiner Welterklärungen kann er es hinnehmen, dass alles ist, wie es ist, und dass er so leben muss, wie er lebt: unangepasst, dennoch standhaft und bescheiden bis zur Unsichtbarkeit. „Ich bin versteckt.“

Aus seinem wirklichen Können nämlich schlägt er kein Kapital. Der 67-Jährige ist einer der ausgewiesensten Experten in chinesischer Astrologie in Berlin. Sie ist für ihn wie ein mathematisches System, mit dem er seine Ideen vom Universum und den Menschen immer wieder neu nachprüfen kann. In der chinesischen Astrologie treffe das Unberechenbare auf Berechenbares, das Orientierungslose auf einen begehbaren Weg, Schicksal auf astrologische Logik. So was kann Trost und Zuversicht spenden. Auch einem wie Rausch, dem die Sterne nicht immer den Weg gewiesen haben wie einem Helden.

Rausch ist 1937 in Berlin geboren. „Vor dem Krieg. Man nannte uns deshalb Friedenskinder“, sagt er. Dass diese „Friedenskinder“ vom Frieden nichts gespürt haben, dass ihre Kindheit ein einziger Krieg war – das wurde ihnen lange Zeit ausgeredet. Zu klein, was mitzukriegen, hieß es. Aber Rausch weiß genau: „Jetzt vor 60 Jahren hörte man das Grollen. Diesen Monat hatte ich das Gefühl, dass das Grollen wieder kommt.“

Als es in Berlin zu gefährlich wurde im Krieg, ging die Mutter mit ihren drei Kindern zu ihren Eltern nach Schlesien aufs Land. Sein Großvater, der Reden gegen Hitler gehalten habe, konnte – so werde es überliefert – auch mit Pferden reden. Sein Vater wiederum machte auf nachtblind, damit er nicht an die Front kam. Am Ende kam er doch an die Front und verschwand. „Im Januar 1945 war dann in Schlesien Schluss. Da haben wir die alte Lotte vor den Karren gespannt.“ Es war das letzte Pferd, das sein Großvater noch hatte. Flucht und Plünderung. Daran kann Rausch sich auch erinnern. „Ich hab unter den Stiefeln der Plünderer gehockt. Die gingen dann über mich hinweg. Manchmal haben wir geheult.“ Starke Bilder sind das, in einfachen Worten gesagt. „Nur die Lotte, die hat uns gezogen, bis wir in Sicherheit waren. Dann ist sie gestorben.“ Wenn er erzählt, erlebt er es neu. Auf jeden Fall sei dies die Zeit gewesen, in der er nicht mehr verstanden habe, warum er zur Schule gehen muss.

Später macht er eine Lehre als Metalldreher in Kreuzberg, obwohl er lieber Kunst studiert hätte. Danach wird er Automateneinrichter bei der Nationalregistrierkasse. Aber als er 25 ist, will er nicht mehr. „Ich war ja nie glücklich in meinem Beruf. Ich wollte weg und wusste nicht, wie ich das anfange. Ich wollte Maler werden.“ Er macht sich auf nach Indien, kommt aber nur bis Österreich, lebt auf einer Alm und zeichnet Karikaturen. Auf dem Rückweg nach Berlin bringt er sie zum Simplicissimus in München. Das Satiremagazin, das in in der Kaiserzeit und während der Weimarer Republik berühmt war, erlebte nach dem Krieg einen Neustart. Die Redaktion will Rauschs Zeichnungen haben. Als er es erfährt, glaubt er, dass nun der Durchbruch kommt. Aber das Magazin geht 1964 ein, bevor seine Werke gedruckt sind.

Auf der Suche nach einer neuen Arbeit landet Rausch in einem Reformhaus in Wilmersdorf. „Ich war ja früher oft krank. So bin ich zum Essen und zur Lebensreform gekommen.“ Irgendwann übernimmt er das Reformhaus, „und dann war ich glücklich“. 30 Jahre lang führt er den Laden. In den Gesprächen im Hinterzimmer wird Philosophie, Ernährung und Kosmologie verhandelt. Rausch selbst wird zum Vorreiter der makrobiotischen Ernährungsbewegung. Ein Hungerkünstler ist er deswegen noch lange nicht: „Sagt jemand Asket zu mir, kauf ich mir schnell ein Stück Schweinefleisch, um das Gegenteil zu beweisen.“ Weil er das Rauschhafte seines Namens nicht ablehnt, gönnt er sich hin und wieder auch einen Espresso im Café und eine Zigarre, Marke Handelsgold. Und dies, obwohl das Finanzielle in seinem Leben ein Schwachpunkt ist. „Ich muss knapp leben.“ Deshalb nimmt er auch jetzt noch jede Arbeit an. Er putzt, hilft bei Umzügen, kocht für Gebrechliche. Mit seinem wahren Können, der chinesischen Astrologie, tut er sich schwer, Geld zu verdienen. Es liegt wohl daran, dass Schicksal und Logik im Grunde keinen Preis haben können. Immerhin: Manchmal führt er Heilpraktiker in die astrologische Kunst ein, manchmal will jemand sein Leben von ihm erklärt haben. „Bei den Shaolin-Mönchen war ich auch schon.“

Zur Astrologie ist Rausch gekommen, weil er fasziniert war von den Ephemeriden, den Tabellen, aus denen der Planetenstand extrapoliert wird. Der Gedanke, dass sich hinter der Sterndeutung Mathematik verbirgt, hat ihn angesprochen. „Im Rechnen war ich immer gut.“ Glück für ihn, dass er sich zudem mit Registrierkassen auskannte. Denn als er in den 60er-Jahren ein Buch fand, in dem das chinesische Horoskop eines 1870 geborenen Menschen erklärt wurde, errechnete er ausgehend von diesem Zeitpunkt mithilfe seiner Kasse die Planetenstände aller nachfolgenden Jahre im chinesischen System.

Kaum hatte er diese Aufgabe erledigt, begann er, Biografien auf astrologische Gesetzmäßigkeiten hin zu untersuchen. In seiner spartanisch eingerichteten Wohnung gibt es hunderte von Listen, auf denen er die Horoskope von Leuten miteinander vergleicht. Was unterscheidet Diktatoren von Revolutionären, was Philosophen von Sportlern? Was Menschen, die aus einem fördernden Elternhaus kommen, von denen, die sich gegen ihre Herkunft stemmen? Was Menschen, die an einem Yin-Tag geboren sind, von denen, die an einem Yang-Tag geboren sind? Die Listen sind seine eigentlichen Kunstwerke: kalligrafisch gestaltet, manchmal mit Tuschezeichnungen und chinesischen Schriftzeichen versehen. Es sind in Zahlen verdichtete Grafiken, die den Blick auf den Menschen erweitern, obwohl es in den Listen immer wieder Leute gibt, die die richtigen astrologischen Voraussetzungen haben, aber das Gruppenmuster sprengen. „Ich mache die Listen, um die Ungenauigkeit in den Zuschreibungen verkraften zu können.“

Aus den Ähnlichkeiten in den Horoskopen aber kann Rausch seine Erkenntnisse ableiten. In seinem Kopf ist auf diese Weise der ganze Kosmos vereint. „Sagen Sie lieber, in meinem Kopf sei der Funken. Den haben wir alle“, korrigiert er. Das chinesische Horoskop ist für ihn ein Modell, ein Subtext, mit dem er die Welt verstehen kann. Und es ist für ihn ein Tor zur alten Kultur und zu deren universalen gesellschaftlichen und menschlichen Wurzeln. „Es geht nicht darum, mein oder dein Horoskop zu haben.“ Solche Egoismen sind für ihn kulturlos.

Rausch, der große, bescheidene, scheue Astrologe muss mit seinen Widersprüchen leben. Einerseits hat er ein Wissen und studiert lautlos in seiner Wohnung, die die Schlichtheit eines Mannes ausstrahlt, den ein gut gelungener Strich auf dem Papier, mit Tusche hingeworfen, glücklich macht. Der Strich darf auch falsch sein. Amateurhaft. Nur eine Spur. Andererseits möchte er, dass sein Können eine Wirkung hat und die Welt verändert. Er versteht nicht, dass ihn keiner kennt, obwohl er nichts dafür tut, dass jemand ihn kennen lernt. Er versteht nicht, dass die Politiker ihn nicht konsultieren. Er könnte ihnen sagen, wann die beste Zeit für Aufbrüche, wann jene für Konsolidierung ist. Angela Merkel zum Beispiel, die steckt in der Krise. Das hinge damit zusammen, dass sie – wie übrigens fast die ganze CDU-Führungsriege – in ihren „Pausejahren ist“. Das sei nach dem chinesischen Kalender eine Zeit, in der man die Füße von sich strecken und nicht die Welt umkrempeln soll.

Rausch wundert es nicht, dass den Christdemokraten derzeit wenig gelingt, obwohl er es auch immer spannend findet, wie sich dennoch alles entwickelt. „Ich würde nie sagen, ich bin sicher. Ich bin einfach nicht damit zufrieden, dass es nur die Realität gibt.“ In seinem Buch, in dem er in die chinesische Astrologie einführt, erklärt er es so: „Wenn es Dinge gibt, dann gibt es auch Leere. Um Platz für die Leere zu schaffen, muss ich die Dinge zusammenrücken.“

Horst Rausch: „Chinesische Astrologie mit Umfeld“. Zu beziehen über den Autor, Telefon: (0 30) 8 26 24 95