Thomas Blatt will die Wahrheit hören

BERLIN taz | Thomas Blatt will keine Rache: „Mir ist egal, ob Demjanjuk ins Gefängnis muss oder nicht“, sagt der 82-Jährige. Der Holocaust-Überlebende wünscht sich nur Aufklärung: „Ich will die Wahrheit. Die Welt soll erfahren, wie es in Sobibor gewesen ist. Er sollte gestehen, denn er weiß so viel“, sagte er dem Spiegel.

Blatt, in den USA lebend, aber derzeit in München, möchte in einem möglichen Prozess gegen Demjanjuk als Nebenkläger auftreten. Er kann sich zwar nicht persönlich an ihn erinnern, doch er kennt das Vernichtungslager aus eigener Anschauung. Bis zu seiner Flucht im September 1943 war er einer der „Arbeitsjuden“ genannten Sklaven, die dort für die SS arbeiten mussten.

Er erinnert sich an die Nazis und an ihre eifrigen Helfer, die „Hilfswilligen“: „Ohne die gut 100 Ukrainer hätten es die Deutschen niemals geschafft, 250.000 Juden umzubringen. Sie haben uns misshandelt, sie haben alte und kranke Neuankömmlinge, die nicht mehr gehen konnten, erschossen. Und sie waren diejenigen, die die nackten Menschen mit aufgepflanzten Bajonetten in die Gaskammern trieben.“

Thomas Blatt wurde im April 1943 aus Ibica bei Lublin nach Sobibor geschafft. Die SS benötigte den Wohnraum in dem polnischen Städtchen für deutsche und österreichische Juden, die sie nach Ibica deportierten – bis auch diese wenige Monate später in Sobibor ermordet wurden.

Blatts Mutter, sein Vater und der Bruder werden nach der Ankunft vergast. Der 15-Jährige wird ausgewählt, um für die Nazis die Habseligkeiten der Ermordeten zu sortieren und Unbrauchbares zu verbrennen, zusammen mit etwa 100 weiteren Juden.

Am 14. Oktober 1943 wagten diese „Arbeitsjuden“ den Aufstand. Sie lockten mehr als zehn SS-Männer und viele der Ukrainer in Hinterhalte und töteten sie. Danach gelang etwa 320 Juden die Flucht. Doch nur etwa 50 von ihnen überlebten den Krieg. Thomas Blatt ist einer von ihnen. Er verbarg sich in den dichten Wäldern.

Viele der greisen Überlebenden des Holocaust können bis heute nicht darüber sprechen, was sie erleben mussten. Thomas Blatt kann es, er muss es. Er hat sogar vor Jahren einen der früheren SS-Männer von Sobibor besucht und mit ihm gesprochen, um zu verstehen, was damals passiert ist. Blatt tritt als Zeitzeuge bei Gedenkveranstaltungen auf, er hat ein Buch über Sobibor geschrieben. Er will und kann nicht vergessen. Er ist lebender Beweis für den jüdischen Widerstand. KLAUS HILLENBRAND