Eine Idee findet von Südamerika ins Schwäbische

Bewährt hat sich die „Bewegte Schule“ in der Fremde. Inzwischen wird sie auch in Deutschland als Modell ganzheitlicher Bildung genutzt

„Eigentlich ist es reiner Zufall, dass sich meine ,Bewegte Schule‘ zuerst in Südamerika ausgebreitet hat“, erzählt Hermann Gall lachend. Der Diplomsportlehrer hatte fünf Jahre als Entwicklungshelfer in den kolumbianischen Großstädten Medellín und Cali gearbeitet. Er arbeitete „mit Straßensport und Fußball-Fanprojekten“.

Der Aspekt der Gewaltprävention spielte damals keine zentrale Rolle. Vielmehr ging es Gall um den Beitrag, den Bewegung, Spiel und Sport zu einer ganzheitlichen Bildung leisten kann. Das war Galls großes Thema, wenn er Studenten in ganz Südamerika fortbildete. Bis eines Tages die Idee aufkam, das Konzept mal „in einer Schule auszuprobieren – im äußersten Süden Argentiniens, in Patagonien“.

Von Argentinien aus rollte dann die Bewegte Schule den ganzen lateinamerikanischen Kontinent auf. Gall konnte sich vor Einladungen kaum retten. Schließlich erreichte die Welle sogar Medellín, wo er arbeitete. „Und als die deutschen Botschafter von dem Projekt Wind kriegten“, dauerte es nicht mehr lange, bis auch die Lehrer in den deutschen Schulen von Buenos Aires und Córdoba in Argentinien das Konzept spannend fanden – und es umsetzten.

Inzwischen gibt es in Belo Horizonte, der viertgrößten Stadt Brasiliens, sogar eine „Bewegte Universität“. Doch auch in seiner schwäbischen Heimat interessierte man sich plötzlich für den langjährigen Vorsitzenden des Akademischen Turnbundes.

Im September 1994 begannen Lehrer, Eltern, Hausmeister und Schüler an der Grundschule in Kleinbottwar mit dem Projekt „Wirbel in der Schule“. Der Ort im Nordosten von Stuttgart liegt nicht weit von Ludwigsburg, wo der inzwischen emeritierte Professor Hermann Gall an der dortigen Pädagogischen Hochschule unterrichtete. „In Kleinbottwar ist die Bewegte Schule inzwischen so selbstverständlich, dass sie überhaupt kein Thema mehr ist“, berichtet Gall. Sämtliche Elemente der Bewegten Schule sind dort umgesetzt. Die Schule ist als Modellprojekt ein Multiplikator geworden.

Bei der gründlichen Auswertung der Erfahrungen in Kleinbottwar stellte man fest, dass Schüler, die aktive Pausen gestalten, körperlich beweglicher und mental lernbereiter sind. Und obwohl die Schulleiterin Ulla Seitz den Sportunterricht auf bis zu 200 Minuten pro Woche ausdehnte, erhöhten sich die Unfallzahlen beim Schulsport nicht. Vielmehr sanken die Aggressionen auf dem Schulhof.

Deshalb startete das baden-württembergische Bildungsministerium im Jahr 2000 einen zusätzlichen Modellversuch an fünf Grundschulen. Mit dem Schuljahr 2002/2003 weitete man den Versuch auf 300 weitere Grundschulen aus. Und auch in Thüringen gibt es inzwischen ‚bewegungsfreundliche Schulen‘. CHRISTOPH VILLINGER