Gute Chance für die Scharia

AUS DSCHALALABAD UND KABUL SVEN HANSEN

Drei gelbe Tücher mit aufgedruckten Rosen hängen vor einer Mauer im Garten des Amts für Stammesangelegenheiten in Dschalalabad. Mauer und Tücher bilden drei Wahlkabinen. Hier stimmen 1.200 Delegierte, unter ihnen drei Frauen, über die 22 Abgeordneten ab, die die paschtunische Opiumprovinz Nangarhar in der Verfassungs-Loja-Dschirga, der Großen Ratsversammlung, vertreten. 65 Kandidaten, darunter zwei Frauen, bewerben sich. An der Mauer jeder Wahlkabine hängt ein Poster, das Passfotos und Nummern der Kandidaten zeigt. Zwei Männer helfen lese- und schreibunkundigen Delegierten beim Ausfüllen der rosa Wahlzettel, die anschließend unter UNO-Aufsicht in eine Urne geworfen werden.

In einer Kabine hängt das Tuch mit den Rosen so, dass leicht zu sehen ist, wer gewählt wird. Die meisten Delegierten – ältere bärtige Männer mit Turban, Muslimkappe oder Filzmütze – suchen das Kandidatenposter mit dem Finger ab, bis sie freudig ihren Erwählten zeigen. Doch im Vergleich zu den Manipulationen, die im Vorfeld stattfanden, ist diese „Transparenz“ nur ein Schönheitsfehler. „Mir wurde mehrfach Geld angeboten“, berichtet beispielsweise der Stammesführer Gulhaqiq Shinwari aus dem Shinwar-Distrikt. Umgerechnet 100 bis 110 Euro sei ihm für seine Stimme geboten worden. Er sei nicht käuflich, sagt Shinwari. Trotzdem habe er einen Kandidaten gewählt, den er nicht gut finde, aber das habe sein Stamm beschlossen.

Als am Abend die Ergebnisse verkündet werden, sind mindestens 15 der 22 Gewählten frühere Mudschaheddin-Kommandeure, also jene islamistischen Guerillaführer, die in den 80er-Jahren gegen die sowjetischen Besatzer kämpften und dann im Streit untereinander das Land zerstörten, bevor sie von den Taliban vertrieben wurden. Reformorientierte Kandidaten und die beiden Frauen sind bei der Wahl in Nangarhar chancenlos. „Das war keine Wahl, sondern ein Wettkampf von Kommandeuren mit Geld“, sagt ein lokaler Journalist.

Homira Rafi, Leiterin einer Wohlfahrtsorganisation, wollte sich bei den eigenen Wahlen der Frauen auf einen der beiden Sitze bewerben. Ismail Yun, der das Büro der Verfassungskommission in Dschalalabad leitet, gibt zu, dass er Homira Rafi nicht vor Drohungen schützen konnte. Nach der zweiten Drohung der Kämpfer eines früheren Kommandeurs, der heute der Provinzregierung angehört, gab sie auf. „Die Warlords wollen nicht, dass die Frauen eine starke Vertreterin in der Loja Dschirga haben“, sagt Rafi, „sie wollen ihre Verbrechen vertuschen.“ Den Verfassungsentwurf findet sie ganz gut: „Dabei sind viele Rechte für Frauen darin nicht explizit erwähnt, sondern wurden allgemein unter die Bürgerrechte gefasst.“ Das sei besser so, weil es bei einer direkten Erwähnung nur Probleme gebe, denn: „Die Warlords und die Konservativen wollen unsere Rechte beschneiden.“

Schätzungen eines UN-Mitarbeiters zufolge sind rund 70 Prozent der 344 direkt gewählten Delegierten frühere Mudschaheddin. „Das bedeutet mehr Scharia und weniger Rechte für Frauen als bisher im Entwurf vorgesehen“, meint ein westlicher Diplomat.

Über die Rolle des Islam und die Machtfülle des Präsidenten werden die heftigsten Debatten erwartet. „Am besten wäre, der bisherige Entwurf würde unverändert angenommen, da er angesichts der Umstände relativ liberal ist“, sagt Almut Wieland-Karimi, die das Kabuler Büro der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung leitet. „Es wird wohl aber Veränderungen in die islamistische Richtung geben. Ich rechne mit einer expliziten Erwähnung der Scharia, der viele Delegierten schon deshalb zustimmen dürften, um das Scheitern der Loja Dschirga zu verhindern.“ Berichten zufolge sollen der tadschikischstämmige Expräsident Rabbani und der übel beleumundete paschtunische Warlord Sayyaf sich abgesprochen haben, um ihre islamistischen Vorstellungen durchsetzen können.

Präsident Hamid Karsai soll die letzten Tage versucht haben, wichtige Delegierte auf den bisherigen Entwurf einzuschwören. Er droht mit Rückzug, sollte ihm ein Premierminister zur Seite gestellt werden. Früher gab es neben dem König oder Präsidenten immer einen Premierminister. Karsai ließ das Amt in letzter Minute aus dem Entwurf streichen. „In Ländern, in denen es keine starken Institutionen gibt, wo die Überreste von Konflikten noch vorhanden sind, brauchen wir ein System mit einer Zentralmacht und nicht viele Zentren der Macht“, sagt Karsai.

In Afghanistan wünschen sich viele einen starken Präsidenten, manche sehnen sich gar nach einer wohlwollenden Diktatur. Doch sie denken nur an Karsai. Beim Gedanken, dass eines Tages einer seiner Widersacher Präsident sein könnte, werden sie unsicher. Jetzt sind es ausgerechnet Karsais Gegner aus der tadschikisch dominierten früheren Nordallianz um Verteidigungsminister Mohammad Kasim Fahim und Expräsident Rabbani sowie einige Warlords, die unbedingt ein System mit einem Premier wünschen. Fahim wäre selbst gern Premier, während die anderen in einem schwächeren Präsidenten eine geringere Bedrohung ihrer eigenen Macht sehen.

Karsai fehlt eine Hausmacht. Die Reformkräfte sind schwach und schlecht organisiert. Karsais wichtigste Stütze ist die US-Regierung, doch wäre es kontraproduktiv, würde er als Washingtons Schützling wahrgenommen, zumal die US-Streitkräfte gerade bei zwei Fehlangriffen 15 Kinder getötet haben.

Auf die größe Ablehnung im Verfassungsentwurf stößt der Paragraf 43 zu Bildung. Darin wird der Staat verpflichtet, Bildung nur bis zur Sekundarstufe kostenlos anzubieten. Höhere Bildung dürfte kostenpflichtig werden. „Dann können nur noch Reiche und Kriminelle ihre Kinder studieren lassen,“ sagt Homira Rafi stellvertretend für viele, die Studiengebühren ablehnen.

Leidenschaftlich dürfte über Sprachen debattiert werden. Der Entwurf nennt Paschtu und Dari als gleichberechtigte Landessprachen. Der Begriff der Nationalsprache wurde abgeschafft und damit ein emotionaler Identifikationspunkt für viele Paschtunen, deren Sprache bisher Nationalsprache war.

In Kabul werden Anschläge während der oder sogar auf die stark gesicherte Loja Dschirga befürchtet. Bereits vor Tagen wurden die Sicherheitsmaßnahmen in der Stadt verstärkt. Über die Dauer der Versammlung entscheiden die Delegierten; man rechnet mit zehn Tagen bis drei Wochen. Präsident Karsai hat die Delegierten zur Eile gemahnt.