Verpflichtung an das „Nie Wieder“

Das Bochumer Institut für Diaspora- und Genozidforschung feiert zehnjähriges Jubiläum. Die Wissenschaftler erforschen Traumatisierungen der Opfer von Gewalt. Allgemeine Strukturen des Völkermordes erkennen sie nicht, er sei immer einzigartig

von HOLGER ELFES

Am Anfang war Skepsis, erinnert sich Mihran Dabag, Gründer und Direktor des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung (IDG) an der Ruhr-Universität Bochum. Als das Institut vor zehn Jahren eingerichtet wurde, gab es bei akademischen Kollegen auch die Befürchtung, dass das Forschungsinstitut die Relativierung des von Deutschen begangenen Völkermords an den Juden während des Dritten Reichs fördere, weil es sich der vergleichenden Untersuchung der Strukturen von Völkermord widmet. „Das waren noch Nachwirkungen des bekannten Historikerstreits um die Einzigartigkeit des Holocaust“, so Dabag.

Heute ist davon keine Rede mehr. Das runde Jubiläum wurde mit einem Festakt Ende November gefeiert und das Institut ist in der Fachwelt anerkannt, genießt aufgrund seiner anderen Herangehensweise an die komplexe und immer wieder aktuelle Problematik des Genozids, der kollektiven Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen, auch international hohes Ansehen. Der Blick auf das historisch Einmalige eines Genozids wird dabei nicht verlassen, denn das IDG sucht und forscht nicht nach überindividuellen Erklärungsansätzen von Konflikt und Gewalt. „Die moderne Genozidforschung zeigt auf, dass die Ursachen von Völkermord nur polystrukturell zu denken sind“, fasst Dabag das Konzept des Instituts zusammen. „Kollektive Gewalt ist kein Phänomen, keine allgemeingültige Struktur. Man kann Krieg und Genozid nicht ohne Motivationen und Täter denken.“

Der in der Türkei geborene Armenier begann seine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen Genozid und Leben in der Diaspora vor dem Hintergrund der selbst gelebten Erfahrung. Mit dem gleichen Background kam auch seine Mitarbeiterin Lea-Kristin Platt, eine deutsche Jüdin der Nachkriegsgeneration, zum IDG. „Man kann hier also von einem jüdisch-armenischen Gemeinschaftsprojekt sprechen“, so Dabag. Parallelen in der Geschichte der beiden Völker sieht er viele. Etwa die traumatisierenden Völkermord- und Diasporaerfahrungen und die einzigartige Erinnerungskultur: „Es gibt bis heute kein Treffen von Armeniern, kein Familienessen, bei dem darüber nicht gesprochen würde.“

Der türkische Völkermord an den Armeniern in den Jahren 1915/16 war eines der ersten großen Forschungsthemen des IDG. Gemeinsam mit Lea-Kristin Platt unternahm Mihran Dabag zwischen 1989 bis 1996 mehrere Reisen nach Holland, Frankreich, Zypern und in den Libanon, um dort die allerletzten überlebenden Augenzeugen des Genozids, dem bis zu 1,5 Millionen Armenier zum Opfer fielen, zu befragen. 140 Interviews, aufgezeichnet mit Tonband und Videokamera, kamen zusammen und werden heute in einem Stahlschrank im IDG aufbewahrt. Gespräche, die zwischen zwei Stunden und drei Tagen dauerten. Dabei ging es in erster Linie nicht nur um die Augenzeugenberichte der teilweise schon bis zu 90 Jahre alten Menschen, sondern vor allem um die Auswirkungen der extremen Traumatisierung der Opfer durch Verfolgung und Gewalt auf ihre Persönlichkeit und ihre biographische Entwicklung. Viele von ihnen äußerten sich gegenüber den Bochumer Wissenschaftlern zum ersten Mal überhaupt zu ihrem Leid. „Die Überlebenden haben sich auch im hohen Alter noch als Waisen empfunden“, erzählen die Forscher von den Begegnungen.

Ähnlich wie die von Steven Spielberg initiierten Interviews mit jüdischen Holocaust-Überlebenden, wenn auch in kleinerem Umfang, stellen die Gespräche mit den Armeniern eine einzigartige Quelle mündlicher historischer Überlieferung dar. Im letzten Jahr erhielt der Bochumer Forscher für seine Arbeit den zum ersten Mal vom „Zentrum gegen Vertreibungen“ verliehenen Franz-Werfel-Menschenrechtspreis. „Wir scheinen uns von einer Phase der Verantwortung über Phasen der Erinnerung und Versöhnung jetzt zu einer Phase der Universalisierung des Geschehenen zu bewegen“, sagt Dabag in Bezug auf die Erinnerungsdebatten in Deutschland. Durch Verallgemeinerung ginge aber das Spezifische etwa des Holocaust auf Dauer verloren.

Die Diskussion wertet Dabag als Versuch einer Entlastung der Mehrheitsgesellschaft zu Lasten der Erinnerung der jüdischen Opfer. „Wenn wir heute von der Aktualität der Forschung über Prozesse staatlicher Gewalt und Völkermord sprechen müssen“, so Dabag, „dann heißt das, dass wir bei einer entscheidenden Aufgabe, die uns der Nationalsozialismus hinterließ, versagt haben: nämlich bei der Verpflichtung an das „Nie wieder“. Die Balkan-Kriege, der Genozid in Ruanda oder die jüngsten Massenvertreibungen und -ermordungen im Sudan zeugten davon, wie Gewalt selbst wieder zu einem politischen Wert und zu einer höchsten Aufgabe erklärt werde.