Geschichten von Angst, Zwang und Scham

Zwangsverheiratungen und Ehrenmorde gibt es nicht nur in albanischen Bergregionen. Auch in Köln würden Frauen regelmäßig Opfer von Verbrechen „im Namen der Ehre“, berichten Teilnehmer einer Podiumsdiskussion im Domforum

KÖLN taz ■ Kurz vor den Sommerferien ahnte sie, dass ihr die Freiheit abhanden kommen würde. Wie ein nasses Seifenstück würde sie ihr aus den Fingern gleiten und zurück bleiben, irgendwo auf dem Weg von Deutschland in die Türkei. In Anatolien wartete ein Selim, von dem Tüzün nur wusste, dass er einen Oberlippenbart trug, Auberginen hasste und in ein paar Wochen ihr Ehemann sein würde.

Wenn Sabine Osbelt vom Interkulturellen Mädchentreff im Mädchenhaus Köln von Hochzeiten spricht, dann erzählt sie Geschichten von Angst, Zwang, Erpressung und Scham. Geschichten von Liebe sind keine darunter. Osbelt erzählt anlässlich des Internationalen Tags gegen Gewalt an Frauen im Domforum von Zwangsverheiratungen und anderen Verbrechen im Namen der Ehre, die ihr im Mädchenhaus regelmäßig über den Weg laufen. „Viele unserer Mädchen wissen kurz vor den Ferien, dass sie aus der alljährlichen Türkeireise in diesem Jahr mit einem Ehemann zurückkehren werden, den sie gar nicht kennen“, berichtet Osbelt.

Manchmal sind es Ratsuchende, die vor den Türen des Mädchentreffs stehen, meist wollen die Mädchen aber einfach nur ihre Geschichte erzählen. Nicht jede 16-Jährige ist nach Auskunft Osbelts in der Lage, sich gegen den massiven Druck ihrer Familie zur Wehr zu setzen. „Einerseits fürchten sie sich natürlich vor dieser Ehe, andererseits wissen sie aber auch, dass ihre Weigerung einen Bruch mit der Familie bedeuten würde“, beschreibt Osbelt das Dilemma der Mädchen. Auch Tüzün wusste: Entweder sie würde den Unbekannten heiraten, oder sich weigern und damit die Ehre der gesamten Familie verletzen.

Sabine Osbelt schafft nicht jedes Mädchen, das zwangsverheiratet werden soll, in die Sicherheit eines anderen Bundeslandes. „Ich kann niemandem vorschreiben, was ein selbstbestimmtes Leben ist.“ Nur wenn die Mädchen „wild entschlossen“ seien, helfe sie bei der Flucht. Eine Flucht, aus der es oft kein zurück mehr gebe. „Meist sind die Bande zur Familie dann endgültig zerschnitten“, sagt Osbelt.

Auch in das Frauenberatungszentrum Kalk kommen nach Auskunft von Cigdem Özgüzel viele türkische Frauen, die sich nur unter Zwang einen Ehering an den Finger stecken ließen. „Diese Ehen sind meist natürlich nicht von Liebe und partnerschaftlicher Unterstützung geprägt, sondern von Gewalt und Unterdrückung“, sagt Özgüzel. Und so ziehe die Zwangsverheiratung andere Verbrechen wie Vergewaltigungen nach sich, gegen die sich die verunsicherten Frauen nur schwer zur Wehr setzen könnten. „Viele glauben selbst Schuld zu tragen am gewalttätigen Zorn des Ehemanns, weil sie schlecht gekocht oder nicht geputzt hätten“, weiß Dorothe Brockt vom Sozialdienst Katholischer Frauen in Remscheid. Grund zur Hoffnung gäben oft die Kinder dieser Paare. „Häufig sind es die Söhne oder Töchter, die zur Polizei gehen und den Vater anzeigen. Sie haben in Schule und Freundeskreis ein anderes Rechtsempfinden gelernt“, sagt Özgüzel.

Tüzün hat die Familienehre nicht verletzt. Sie hat den Unbekannten geheiratet. Sie hat sich arrangiert. Nicht einmal dazu hat jede Frau das Recht. Natalias angepasstes Leben wurde mit 16 Messerstichen aus der Hand ihres Ehemanns beendet. Sie wurde nur 27 Jahre alt. Mahnend baumelt ein weißes T-Shirt mit ihrem Namen von der Decke des Domforums. Ob sie schlecht gekocht oder nicht geputzt hat, ist nicht bekannt. Claudia Lehnen