In der lichten, grünen Mitte

Wie man sich gestern das Morgen vorstellte: Das Hansaviertel ist ein Paradebeispiel westdeutscher Nachkriegsmoderne. Architekten wie Alvar Aalto, Max Taut und Egon Eiermann waren hier aktiv

VON SANDRA LÖHR

U-Bahnhof Hansaplatz im November. Hier kann man die Zukunft bewundern. Allerdings eine Zukunft, wie man sie sich in der Vergangenheit vorgestellt hat. Auf den ersten Blick wirkt alles nüchtern. Die Ladenpassage im U-Bahnhof ist heruntergekommen. Ein Bolle-Supermarkt, ein Billig-Textildiscount und ein türkischer Gemüsehändler bieten ihre Waren an. Tritt man aus dem überdachten Bahnhof heraus, blickt man auf ein paar vereinzelte Hochhäuser, die auf dem grünen Rasen unschlüssig nebeneinander stehen, als könnten sie sich nicht entscheiden, ob sie Stadt oder Land sein wollen.

In den späten 50er-Jahren wurde das Hansaviertel als „die Stadt von morgen“ gefeiert. Schlicht, einfach, modern und doch an der Natur. So sollte sie aussehen, die westdeutsche Zukunft. Doch es kam anders. Heute stehen viele Wohnungen leer, die Leute ziehen lieber in sanierte Altbauwohnungen als in ein Hochhaus.

„Die Leere, die hier ist, die muss man ertragen können“ sagt Cornelius Mangold und schließt die Tür zu seinem Büro im so genannten Eiermannhaus auf. Seit gut einem Jahr wohnt der 36-jährige Architekt im Hansaviertel. Und das nicht, weil er mit seiner Frau und seinen zwei Kindern keine andere Wohnung bekommen hätte, sondern weil ihn die Architektur der westdeutschen Nachkriegsmoderne fasziniert.

Westdeutsche Nachkriegsmoderne? Sind das nicht diese scheußlich-schlichten Betonbauten, denen man eigentlich in Vierteln wie Charlottenburg oder Kreuzberg unbedingt aus dem Weg gehen wollte? Cornelius Mangold sieht das anders. 1992 zog er schon einmal in ein Viertel, wo damals nur wenige wohnen wollten: nach Mitte. Die Sehnsucht nach Kopfsteinpflaster, alten Parkettböden und verfallenen Gründerzeitfassaden musste man mit einer etwas unkomfortablen Lebensweise bezahlen. Kohleschleppen und der Gang zur nächsten Telefonzelle gehörten zum Alltag. 1994 war er so genervt, dass er nach Schöneberg zurückging.

Als er Ende der Neunzigerjahre nach einem einjährigen Auslandsaufenthalt nach Prenzlauer Berg ziehen wollte, gefiel es ihm nicht mehr. „Es hatte sich alles ziemlich verändert. Als wir eine Wohnung suchten, mussten wir uns von einem Makler aus München erzählen lassen, dass dieses Viertel total hip ist. Und viele der Wohnungen waren in so einer westdeutschen Vorstadt-Ästhetik saniert worden.“

Durch einen Freund, der damals in einem Plattenbau am Platz der Vereinten Nationen wohnte, bekam er Lust auf das etwas andere Wohngefühl. Seine Liebe zur ostdeutschen Platte ging dann so weit, dass er ihre Architektur zum Prüfungsthema seines Studiums machte und ein Quartettspiel mit Fotos der verschiedenen Plattenbautypen veröffentlichte. „Mir ging es nicht um Schönheit, sondern darum, dass diese Plattenbauten ihre eigene Ästhetik haben. Und genau die hat die westdeutsche Nachkriegsmoderne auch.“

Und sie wollte in den Fünfzigern alles anders machen: Nach den pompösen Bauten des Nationalsozialismus wollte man in der jungen Bundesrepublik lieber schlichte, helle Räume als dunkle Mietskasernen oder Gründerzeitfassaden. So auf den Ruinen des niedergebombten Westberliner Hansaviertels eine „aufgelockerte und durchgrünte Stadt“. Architekten wie Alvar Aalto, Arne Jacobsen, Max Taut und Egon Eiermann bauten hier ihre Entwürfe. Und in den Sechzigerjahren war es schick, hier zu wohnen. Sogar Bubi Scholz eröffnete hier einmal eine Parfümerie.

Aber das ist lange her. Cornelius Mangold lebt und arbeitet trotzdem gerne hier. „Man ist mitten in der Stadt und doch im Grünen. Und durch die klaren Schnitte wird man zur Reduktion gezwungen.“ Auch bei der Familienplanung. Keine der Wohnungen im Viertel hat mehr als zwei Kinderzimmer.

Sein Büro, wo er einen kleinen Verlag hat, ist nur fünf Minuten entfernt von dem Hochhaus, in dem er wohnt. Und vielleicht wird es ja in den nächsten Jahren, wenn die jetzigen Szenebezirke flächendeckend gentrifiziert sind, einen Hype um das alte Westberlin geben. Vielleicht suchen dann die heute 15-Jährigen, die gerade in Prenzlauer Berg und Mitte zwischen Starbucks-Filialen, Schuhläden, Bars und Feinkostläden aufwachsen, das Flair des alten Westberlins. Cornelius Mangold wohnt dann sicher schon wieder woanders.