Kinder von den Erziehern vermietet

In Portugal hat ein Mammutprozess um den sexuellen Missbrauch Minderjähriger begonnen. Die mutmaßlichen Täter: einflussreiche Männer. Der mutmaßliche Vermittler: Angestellter eines Waisenhauses. Die Opfer: hunderte Waisenkinder

VON REINER WANDLER

Richterin Ana Teixeira Silva ist so leicht nicht zu beeindrucken, doch was gestern zum Auftakt eines der am meisten erwarteten Prozesse in Lissabon verlesen wurde, ließ auch sie staunen: „Die Anklageschrift enthüllt eine unglaubliche Realität“, sagte sie. Auf 300 Seiten wird ein jahrelanger, organisierter hetero- wie homosexueller Missbrauch Minderjähriger beschrieben. Die Opfer stammten aus dem staatlichen portugiesischen Waisenhaus „Casa Pia“ in Lissabon. Sie wurden von ihren Erziehern regelrecht vermietet. Die Kunden waren so einflussreich, dass die Verbrechen 30 Jahre unentdeckt blieben. Das Verfahren wird mehrere Monate dauern.

Sieben Angeklagte stehen vor Gericht: Der Waisenhausangestellte Carlos Silvino, der die Kinder vermietete und selbst bei den Orgien mitfeierte, der bekannte portugiesische Fernsehansager Carlos Cruz, der ehemalige Direktor der Schule des Waisenhauses Manuel Abrantes, der Exbotschafter Jorge Ritto sowie ein Anwalt und ein Arzt und die Besitzerin eines der Häuser, in dem die Kinder mit ihren Peinigern zusammenkamen. Allein Silvino werden 700 Verbrechen vorgeworfen. Die Untersuchungen der Gerichtspsychologen ergaben, dass mindestens 128 der zurzeit 700 im „Casa Pia“ lebenden Kinder missbraucht wurden.

Der Skandal um „Casa Pia“ wurde im Jahr 2002 durch einen langen Artikel in der Wochenzeitung Expresso ausgelöst. Als „eine vollständig unmenschliche Einrichtung“ beschreibt der Anwalt Pedro Namora die Einrichtung. Der heute 39-Jährige wuchs einst selbst im „Casa Pia“ auf. Jetzt vertritt er die Opfer Silvinos und seiner Kunden.

Die Ermittlungen brachten Unglaubliches an den Tag: Bibi, so der Spitzname von Silvino, machte sich die Armut und Einsamkeit der Kinder zunutze. Mit kleinen Geschenken lockte er sie in ein Gartenhaus. „Langsam machte sich Angst unter uns breit“, erinnert sich Namora, der sich selbst einmal vor dem nackten Aufseher wiederfand. Das Geschäft mit den Kindern war perfekt aufgezogen. Einige schickte Bibi auf den Straßenstrich in einem Park der Hauptstadt, andere vermittelte er direkt an reiche und einflussreiche Päderasten. Um die Gesundheit der Kunden zu gewährleisten wurden die Minderjährigen zuvor von Ärzten auf Geschlechtskrankheiten untersucht. Portugals Öffentlichkeit war geschockt. Immer wieder sickerten neue Ermittlungsergebnisse durch. Selbst hohe Politiker wurden beschuldigt an dem systematischen Missbrauch der Kinder beteiligt gewesen zu sein.

Der ehemalige Arbeitsminister und damalige Nummer 2 der Sozialistischen Partei saß 2003 für fünf Monate in Untersuchungshaft. Die Anschuldigungen gegen ihn sollten sich ebenso als falsch herausstellen, wie die eines anonymen Briefs gegen Staatspräsident Jorge Sampaio. Die Sozialisten sprachen immer wieder von einem Komplott.

Viele der Kunden dürften wohl nie bekannt werden.Viele der Opfer sind taubstumm. Die, die reden können, kennen ihre Peiniger nicht bei Namen. Sie nennen sie „Herr Doktor“ oder „Herr Ingenieur“. Hinzukommt, dass Päderastie von den Opfern nur innerhalb von fünf Jahren angezeigt werden kann. Danach verjährt das Vergehen.

Bereits 1982 zeigte der damalige stellvertretende Sozial- und Familienministerin Teresa Costa Macedo „pädophile Umtriebe“ im „Casa Pia“ an. Die Polizei verschleppte das Verfahren jahrelang, bis es dann 1993 mangels Beweise eingestellt wurde.