Zwischen Sorge, Trauer und Desinteresse

In Ramallah warten die Bewohner mit gemischten Gefühlen auf neue Nachrichten über Palästinenserchef Jassir Arafat. Doch die Anteilnahme hält sich in Grenzen. Derweil bemühen sich die Verantwortlichen intensiv um eine Lösung der Nachfolgefrage

„Arafat ist seitvier Tagen tot.Er hat nichts fürsein Volk getan“

AUS RAMALLAH SUSANNE KNAUL

Am Al-Manar-Platz im Zentrum von Ramallah herrscht munteres Treiben. Ein Junge lockt Kunden, denen er ungeachtet der noch immer sehr heißen Temperaturen Strickpullover und Socken zu verkaufen versucht. Verschleierte Frauen mit Kindern und schweren Einkaufstüten laufen an dem Denkmal der Löwen vorbei, wo bunte Teppiche feilgeboten werden. Jeanshosen von der Stange, aufblasbare Plastiktiere und Trillerpfeifen, frisches Fettgebäck und Obst – ein Kaufrausch, wie zu Weihnachten. Es ist Ramadan und die Leute wollen feiern, ob mit oder ohne einen dahinsiechenden „Rais“.

Nichts – nicht das kleinste Bildchen, weder laufende Fernsehapparate noch im Radio übertragene Gebete für seine Genesung – erinnert an den sterbenden Palästinenserpräsidenten Jassir Arafat. „Wir lieben ihn“, ruft eine Gruppe Halbwüchsiger fröhlich, sein Gesundheitszustand scheint sie nicht sonderlich zu deprimieren.

Besorgt zeigt sich hingegen ein Geldwechsler: „Für die Palästinenser ist es schlecht, dass Arafat so krank ist. Niemand weiß, was nun werden wird.“ Der Mittfünfziger räumt ein, dass „Arafat Fehler gemacht hat“, nicht mit Blick auf die Friedensverhandlungen, aber doch auf innenpolitischer Ebene, „wo er alles allein kontrollierte“ und dem ehemaligen Premierminister Machmud Abbas keine Chance gegeben hat.

Noch deutlicher wird ein Passant, der sich in das Gespräch einmischt: „Arafat ist seit vier Tagen tot“, sagt er unbewegt. Der PLO-Chef habe „nichts für sein Volk getan“. Er will seinen Namen nicht nennen und sagt nur so viel: dass er selbst für die Autonomiebehörde tätig ist. „Die Korruption wird andauern“, prophezeit er, auch ohne Arafat, wenn erst einmal die CIA-Agenten Abu Masen und (Exsicherheitschef) Mohammad Dahlan die Geschäfte in der Muqataa, dem Amtssitz Arafats, übernähmen.

Kritische Stimmen gegen Arafat sind nichts Neues. Überraschend ist jedoch, wie wenig Anteil das Volk am Schicksal des sterbenden „Vaters der Nation“ zu nehmen scheint. Möglich, dass der Mangel an Pilgerstätten die Emotionen zügelt – der Kranke war schon vor gut einer Woche in ein Pariser Krankenhaus gebracht worden. Nicht einen einzigen Arafat-Anhänger trieb es gestern früh zur Muqataa.

Nur die Journalisten verharrten vor verschlossenen Türen über Stunden in der Sonne, um keinen der peu à peu eintreffenden Politiker zu verpassen, die Premierminister Achmad Kurai (Abu Ala) am Morgen zu Beratungen des Sicherheitsrates bestellte. Nach Auskunft von Minister Saeb Erikat, ehemals Delegationsleiter bei den Friedensverhandlungen, habe man sich über einen Plan zur Wahrung von Ruhe und Ordnung geeinigt.

Abu Ala wird seine Funktion als Premier fortsetzen und übernimmt zunächst die Kontrolle über die zentralen Bereiche Sicherheit und Finanzen. Abu Masen, nach Arafat wichtigster Mann in der PLO, soll als eine Art Interimspräsident fungieren. Er beriet sich am Morgen mit führenden Fatach-Funktionären.

Die Nachfolgefrage bewegt sich auf drei Ebenen: Präsidentschaft und PLO-Vorsitz zum einen sowie Regierungschef und Parteivorsitz. Abu Masen, Mitbegründer der Fatach, hat vermutlich in den Reihen seiner eigenen Partei vorerst keine Konkurrenz zu fürchten. Berichten zufolge strebt der mit den operativen Aufgaben betreute Abu Ala die Bildung einer Interimsregierung der nationalen Einheit an. Am Wochenende traf der Regierungschef im Gaza-Streifen mit Vertretern sämtlicher Fraktionen zusammen, darunter Hamas und Islamischer Dschihad. Die beiden islamischen Widerstandsorganisationen signalisierten offenbar Bereitschaft zu einer Ruheperiode und Kooperation, bis Wahlen abgehalten werden. Für den Abend waren weitere Gespräche mit den weltlichen PLO-Parteien geplant.

„Marwan Barghouti soll die Nachfolge übernehmen“, ruft ein Soldat durch den Türschlitz an der Muqataa. Und wenn nicht er – Barghouti, Chef der Fatach-Jugend im Westjordanland, sitzt eine mehrmals lebenslängliche Haftstrafe ab –, dann eben Abu Masen, denn „der gehört zur Fatach“. Saber Kubala, der 20-jährige Soldat aus Jenin, verbringt den Tag mit seinen Kameraden vor der Muqataa und „bewacht“ eins der Zugangstore. „Ich liebe Arafat wie einen Vater“, sagt er. Er sei „immer sehr freundlich“ gewesen und habe die Soldaten nach ihrem Befinden gefragt.

Die vor dem Amtssitz Arafats stationierten Soldaten gehören zur „Force 17“, der Leibgarde des Palästinenserpräsidenten. In einem kleinen Büro sitzt ein älterer Offizier, der trotz des Fastenmonats Ramadan eine Zigarette raucht. „Ich bin wegen Kopfschmerzen in ärztlicher Behandlung“, erklärt er, er sei vom Fasten befreit. Hinter ihm hängt ein Bild des jungen Arafat im Libanon. Mit einer Sportmütze steht er hinter einer Reihe von Sandsäcken und erteilt den Mitgliedern seiner Leibgarde Anweisungen. „39 Jahre war ich mit Arafat zusammen“, sagt der Offizier. „Ich kann nicht schlafen und bete die ganze Zeit für ihn.“