Kein schöner Land

Ehrgeizig konzipiert, verliert sich „Die Geschichte der Nordsee“ im handelsüblichen Historytainment mit viel Dramatik, noch mehr Musik, reichlich Lokalkolorit und passt so bestens zu den Dritten Programmen. Die pflegen längst vor allem die Heimatliebe

Es weht ein heimattümelnder Hauch durchs Fernsehland, unablässig, wie ein behaglich stimmendes Volkslied: „Kein schöner Land in dieser Zeit“. Der Komponist Anton Wilhelm Florentin von Zuccalmaglio scheint Mitte des 19. Jahrhunderts ein öffentlich-rechtliches Sendekonzept besungen zu haben: „Als hier das unsre weit und breit“. Eine Sendung des Saarländischen Rundfunks wurde gleich ganz nach der alten Weise Zuccalmaglios benannt. Als gäbe es nichts anderes, nichts Besseres zu tun in den sieben Landeshäusern zwischen München, Köln und Hamburg, als Hohelieder auf den Standort anzustimmen.

Unser Leitmedium scheint von schier überbordender Vaterlandsliebe ergriffen wie die Kölner vom Karneval. Allen voran die Dritten Programme, auch der länderübergreifende NDR. „Lust auf Norden“, „Nordseereport“, „Land und Leute“, „Rund um den Michel“, „Land und Liebe“, „Landpartie – im Norden unterwegs“. Dazu Reportagen, Dokumentationen, Heimatfilme, Reisetipps, Volksmusiksausen und Historytainment wie „Die Geschichte der Nordsee“ – Ingo Helms dreiteilige Lektion leidlich kritischer Heimatkunde, die ab 14. April dienstags im Morast wimmernder Geigen versinkt.

Dabei ist das Projekt eigentlich recht ehrgeizig: Das Leben der Menschen eines Landstrichs zu erzählen, der erst vor knapp 8.300 Jahren in der Eiszeitschmelze zur Küste wuchs. Wie sie dort sesshaft wurden und Händler, Piraten oder Wale jagten, Bronze gossen, dann Deiche bauten, Revolutionen anzettelten und Fisch fingen. „Wie viele von ihnen ihr Leben ließen, ist unbekannt“, raunt der Sprecher zum Thema Ursprünge der Seefahrt sinister aus dem Off, „das Meer hat sogar ihre Erinnerungen verschlungen“.

So funktioniert regionalisierte Unterhaltung: Viel Aufwand, viel Drama, viel Zuhause. Denn erst, wenn Historiker mit Vornamen Hauke über „sspitze Ssteine sstolpern“ und selbst der Direktor des Landesmuseums Natur und Mensch namens Mamoun Fansa das „R“ nordischer rollt als eingeborene Oldenburger um ihn herum, erst dann fühlt sich das Publikum offenbar geborgen. Die Dritten Programme, sagt die zuständige NDR-Redakteurin Patricia Schlesinger, sollten den Anwohnern „eine Heimat im positiven Sinne“ bieten. „Lokal fühlen, global denken“ lautet ihr Credo. Aber was, fragt sie, „kann denn öffentlich-rechtlicher sein, als ihnen auch Geschichte näher zu bringen?“

Zum Beispiel, indem man die lokalen Gefühle mal mit eigenen Ideen, mehr Inspiration und etwas Wagemut unterfüttert, statt immer nur kommerzfernsehgeschulte Sehgewohnheiten zu füttern. Dokumentationen machen also, wie es einst Rolf Schübel oder Lutz Hachmeister probierten, wie Aelrun Goette oder Andrea Morgenthaler es heute tun. Stattdessen alles wie gehabt: Spannende Fakten, populäre Umsetzung, immer schön vor der eigenen Haustür gekehrt.

Und so reiht sich „Die Geschichte der Nordsee“ doch wieder nur ein in all die Selbstvergewisserungen maximaler Schollenverbundenheit. Keine Frage, wie jede ortsansässige Tageszeitung hat auch die Gemeinschaftsanstalt der Küstenländer ein Angebot mit Lokalkolorit zu liefern. Aber steht eigentlich im Rundfunkstaatsvertrag, dass er gepriesen werden muss, wo es nur geht? Das bundesweite Abkommen regelt in Punkto Dritte Programme nur, dass ihre Landesfenster von „Hamburg Journal“ bis „Niedersachsen Magazin“ allein im betroffenen Gebiet zu sehen sein sollen. Das war’s. Keine inhaltlichen Vorgaben, keine politischen Direktiven, nicht mal ein Auftrag informationeller Grundversorgung. Denn den, besagt Paragraf 25, haben allein die Regionalformate der ARD am Vorabend zu erfüllen.

Und doch beschleicht den kritischen Zuschauer bisweilen das Gefühl, unterfordert, ja: unterwandert zu werden von den Dritten. Allem voran beim MDR. Das Gezeigte reduziert sich längst auf exakt zwei Themenschwerpunkte: Volkstümliches und Ostalgie. Der Bayerische Rundfunk, 1964 als erstes Regionalprogramm auf Sendung, nutzte die Macht ortsüblicher Emotionen schon mal zur stundenlangen Liveübertragung staatskatholisch organisierter Demos gegen das Kruzifix-Verbot an Schulen. Die „Hessenschau“ startete einst gewiss nicht zufällig fast zeitgleich mit dem landesweit veranstalteten „Hessentag“ zur Stärkung der regionalen Identität. Und N3 zeigte an einem Donnerstag vor Ostern nach der Tagesschau ein altes ARD-Starquiz mit Pilawa, ein neues Kinderquiz mit Plasberg und anschließend die Hitlisten des Nordens, Thema: die schönsten Schmusesongs.

„Kritischer Regionalismus war gestern“, schrieb die politische Zeitschrift Das Parlament schon vor fünf Jahren zu dieser Art von TV. Heute dagegen dominiere auf den Sendern, die sich doch einst als Nischen für Bildung, Avantgarde und Kultur verstanden haben, ein Mix aus „Heimattümelei, Kochtopfjournalismus, Infotainment und Boulevardisierung“. Genau in diese Richtung, pflichtet der langjährige NDR-Redakteur und heutige Fernsehhasser Jürgen Bertram bei, habe sich keine andere Programmschiene „so revolutionär entwickelt“. In entpolitisierten Fernsehzeiten zieht man sich lieber zurück ins Private, versendet unablässig Wiederholungen der ARD, also vor allem „Tatort“, „Tatort“, „Tatort“, pflastert den Rest mit dem „Großstadtrevier“. Gut – mit stolzen 88 Dokumentationen lieferte der NDR im vorigen Jahr mit Abstand die meisten Dokumentationen aller Landeshäuser an die ARD. Darauf ist man zu Recht stolz an der Hamburger Rothenbaumchaussee. Im Umkehrschluss heißt das jedoch auch: wer so viel fürs Erste Programm erstellt, kann fürs eigene kaum noch aus den Vollen schöpfen.

Und so bleibt eben vor allem die günstige Erstellung von Heimatgefühlen fürs Stammpublikum, das einem kritischen Journalisten wie Roger Willemsen längst ein Gefühl verleiht, die Dritten Programme drehen sich insgesamt bloß noch um „Lokales und Patriotismus“. Alles für die Heimat eben. Wo wir uns finden, wohl unter Linden / zur Abendzeit. JAN FREITAG