Coole Bandagen

Quo vadis, Jugend? Schockierender Opfer-Trend in Japan

Japans Jugendliche zeigen ihre Wunden: Der Lazarett-Look ist zurzeit die heißeste Nummer

Die Jugendlichen zwischen Tokio, New York und Bitterfeld begehren wieder auf. Vorbei sind die goldenen Zeiten der New Economy, als die Karriereplanung schon im Kindergarten begann. Jetzt nimmt sich eine desillusionierte Jugend die Freiräume, die ihnen die Gesellschaft verweigert, wenn nötig mit Gewalt.

Der Lazarett-Look ist zurzeit die heißeste Nummer in Japan. Japanische Jugendliche zeigen ihre Wunde – vor allem, wenn es eine nachgemachte ist. Mit falschen Beinbrüchen, blutgetränkten Bandagen am Kopf und einer morschen Krücke heischen sie an allen Ecken und Enden des Inselreichs um Mitleid, milde Gaben oder auch nur ein paar aufmunternde Worte. Es ist ihr Weg, die Aufmerksamkeit zu gewinnen, die eine brutale und seelenlose Umwelt ihnen versagt.

Doch die zerlumpten Jugendlichen lieben auch dieses Spiel mit Verkleidung und Verstellung. Sie machen sich einen makabren Spaß daraus, ahnungslose Erwachsene zu schockieren. Je gefährlicher eine Verletzung aussieht, desto besser sind sie unter ihren Altersgenossen angesehen. Und die Ansprüche, die sie sich selbst stellen, werden immer höher: Mit einem gebrochenen Arm braucht man sich heute in Gotaki, Tokios beliebtestem Bandagen-Revier, gar nicht erst blicken zu lassen. Damit zählt man fast schon zu den verachteten Spießern – Hohn und Spott der anderen wären ebenso gewiss wie ein frühzeitiges Ende der „Opfer“-Karriere. Eine vorgetäuschte Beinamputation aber oder ein perfekt modellierter Buckel sichern einen Platz ganz oben in der Hinkordnung. Wenn auch manche Verletzung dilettantisch aufgeschminkt wurde, verfehlt sie doch nicht die Wirkung auf die Erwachsenen.

Manche Jugendliche gehen sogar so weit, Würmer und Maden über ihre „Wunden“ kriechen zu lassen, einzig, um so die Passanten zu schocken. Der neueste Trend kommt aus Nagasaki: die Herz-Zeremonie. Dabei täuschen sie auf offener Straße Herzattacken und epileptische Anfälle vor. Wie sie sagen, ein Mordsspaß für alle Beteiligten und ein hervorragendes Training ihrer schauspielerischer Fähigkeiten, für das sie keinerlei Ausrüstung oder Make-up benötigen. Quo vadis, Jugend?, fragen sich inzwischen viele Japaner. Die Zeit der heiteren Kirschblüte scheint auch im Reich der aufgehenden Sonne abgelaufen zu sein … RÜDIGER KIND