Mein unbekannter Freund

Mein Tauschnetzpartner hat einen ausgezeichneten Geschmack. Mehr weiß ich leider nicht über ihn. Oder sie?

Einer meiner Tauschpartner für Musik scheint in Frankreich zu leben. Oder wenigstens in einen frankophonen Land. Vielleicht benutzt er auch nur die französische Version irgendeines Kompressionsprogramms, das ihm seine mp3-Dateien erzeugt. Leider weiß ich sehr wenig über ihn, und so schnell wird sich das wohl auch nicht ändern. Wir sind nämlich beide kriminell und müssen daher ständig auf der Hut sein vor den Anwälten der Musikindustrie. Eigentlich wäre es überaus einfach, das Tauschnetz, in dem wir uns befinden, gleich zum Chatraum auszubauen. Tatsächlich bieten manche der Peer-to-Peer-Programme, die man auf dem eigenen PC installiert, eine solche Erweiterung an. Aber sie wird offensichtlich kaum je genutzt, denn es ist einfach zu gefährlich. Selbst wenn wir uns die absurdesten und mysteriösesten Chatnamen zulegten, verriete der Inhalt unserer Gespräche viel zu viel. Auch ohne gleich unsere Provider zur Herausgabe der Personalien zu zwingen, die zu unserer jeweiligen IP-Adresse gehören, könnten damit selbst mäßig schlaue Ermittler herausfinden, wer wir sind und wo wir ungefähr wohnen.

Was meinen französischsprachigen Freund angeht, wüsste ich das ja selbst gern. Er ist recht oft im Netz und bleibt dann auch ziemlich lange. Das ist wichtig, denn nichts stört die Zivilisation eines Tauschnetzes mehr als kurze, einmalige Besuche, die bei den davon angelockten Tauschpartnern nur nutzlose Dateifragmente hinterlassen, weil der Kontakt mitten in der Übertragung für immer abbrach. Ganz anders mein französischer Freund. Seine Daten lassen sich leicht abrufen und fließen stetig durchs Netz. Die Download-Geschwindigkeit bewegt sich regelmäßig an der Grenze des nominalen Maximums meiner – zugegeben – etwas veralteten ISDN-Flatrate.

Vielleicht ist er gar kein Mann, obwohl die Userstatistik der Tauschnetze dafür spricht. Frauen sind die Minderheit. Aber vielleicht gehört er dazu, was wenig erstaunlich wäre, weil auch sein Musikgeschmack minoritär ist. Nämlich hervorragend. Nur wirkliche Kenner (und Kennerinnen) sammeln Aufnahmen gerade dieser Interpretin nordindischer Ragas, die er – oder sie – zum Tausch anbietet. Vollkommen geschlechtsübergreifend bin ich dankbar dafür, dass jemand sich die Mühe gemacht hat, solche Meisterwerke vom Original zu kopieren und in das mp3-Format zu pressen. Nur ein einziges Problem gibt es mit ihm, dem Unbekannten. (Ich bleibe der statistischen Wahrscheinlichkeit wegen beim männlichen Geschlecht, Madame wird es mir verzeihen.) Er hat seine Dateien unter den Titeln „01 Piste-01.mp3“ bis „07 Piste-07.mp3“ zum Tausch angeboten. Das sind vermutlich die Namen, die sein frankophones Kompressionsprogramm dann zuteilt, wenn man selbst nichts eingibt. Nun stehe ich da, höre Spur 1 bis 7 und weiß trotzdem nicht, was ich höre. Gerade bei dieser unendlich reichen Musik wüsste ich das besonders gern, aber ohne die minimale Angabe eines Titels habe ich praktisch keine Chance, irgend etwas herauszufinden. Reine Töne kann auch Google nicht suchen. Mit aller gebotenen Vorsicht überlege ich mir deshalb, ob es einen Weg gibt, meinen unbekannten Freund kennen zu lernen. Ohne seine Hilfe bleibt seine Musik für mich ein nicht weiter identifizierbares Wunder. Vielleicht hilft ein toter Briefkasten, selbstverständlich offline? Sachdienliche Hinweise über Piste-01 bis Piste-07 werden vertrauensvoll und diskret entgegengenommen.NIKLAUS HABLÜTZEL