Gleiwitz liegt nicht im Ruhrgebiet

„In Bochum verdienen sie dreimal so viel. Bessere Autos bauen sie auch nicht“„Und wo waren die Bochumer, als beiuns 350 Leuteentlassen wurden?“

AUS GLIWICE/GLEIWITZGABRIELE LESSER

„Gut, dass die in Bochum wieder arbeiten“, sagt Karol Rybinski und atmet durch. „Uns wären sonst einige Teile ausgegangen. Und dann hätten wir in Gliwice kurzarbeiten müssen.“ Rybinski ist 34 Jahre alt und sieht ein bisschen aus wie ein großer Junge. Er arbeitet im Opel-Werk im südpolnischen Gliwice, dem ehemaligen oberschlesischen Gleiweitz. Das heißt, genau genommen arbeitet Rybinski jetzt weniger für Opel als für die 1.900 polnischen Opelaner. Er ist von der Gewerkschaft Solidarność. Er hat viel zu tun in diesen Tagen.

Rybinski kramt in der Aktentasche und holt ein Flugblatt hervor: „Einheit in Solidarität – Solidarität in Einheit“ steht in großen Lettern drauf. Am vergangenen Dienstag haben sie es vor dem Werk verteilt. Die Reaktionen waren allerdings verschieden. „Die einen fanden das gut – im Sinne der internationalen Arbeitersolidarität“, sagt Rybinski. „Die andern fragten: ‚Und wo waren die Bochumer, als bei uns 350 Leute entlassen wurden?‘“

Eigentlich ist der Gewerkschafter gelernter Elektriker. Er gehörte zur ersten rekrutacja. 1998, als General Motors seine Fabrik in der steuerbegünstigten Sonderwirtschaftszone von Gleiwitz baute, bewarb er sich und bestand auf Anhieb den Auswahltest. „Ich war so stolz damals. Mit Opel begann ein neues Leben.“ Erst arbeitete er in der Lackiererei, dann am Montageband. Seit 2001 ist er als gewählter Gewerkschaftsvertreter freigestellt und kümmert sich ausschließlich um die Interessen der Arbeiter.

Das Werk mit seinen metallisch glänzenden Gebäuden und dem riesigen Parkplatz wirkt wie gelandet in der grünen Heide. Alles glänzt und strahlt. Alles ganz modern. Für einen Teil der Arbeiter hat Opel gleich nebenan eine neue Siedlung gebaut. Da die europäische GM-Zentrale in Zürich ausländischen Journalisten den Zutritt zur Fabrik untersagt hat, treffen wir uns vor dem Werkstor und fahren zu Karol Rybinski nach Hause ins benachbarte Zabrze (ehemals Hindenburg).

Auf dem Weg erzählt der Familienvater: „Vielleicht kehre ich irgendwann in die Produktion zurück. Aber immer dasselbe Modell zu bauen, Agila oder Astra, ist langweilig. Und als Arbeiter hat man im Grunde doch keine Chance, nach oben zu kommen.“ Deshalb drückt er wochenends wieder die Schulbank. Er will das Abitur machen, danach Wirtschaftsrecht studieren.

Schon von weitem zeichnet sich gegen den fahlgrauen Himmel die gespenstische Ruine eines Kohlebergwerks ab. Zabrze – die schwarzen Fensterlöcher und ein sinnlos gewordener Förderturm künden vom Untergang einer Bergarbeiterstadt. Zwischen den rußgeschwärzten Gebäuden huschen dunkle Gestalten hin und her. „Mein Vater hat hier 25 Jahre lang gearbeitet“, erzählt Rybinski. „Jetzt klauen die Leute, was nicht niet- und nagelfest ist.“ Die Arbeitslosigkeit in Zabrze ist groß: über 25 Prozent. Anders als in Gliwice hat die Umstrukturierung vom Kohlerevier in eine Industrie- und Gewerbestadt in Zabrze nicht geklappt.

Wir biegen auf einen tristen Schotterplatz ab. „Das ist unsere familiowka“, sagt Rybinski lachend. Die alten Schlesier würden den Ausdruck „wasserpolnisch“ nennen: deutscher Wortanfang, polnische Endung. Das Haus stammt noch aus der Vorkriegszeit. Die Treppen knarzen bedenklich.

Aus dem diffus-gelblichen Licht einer 20-Watt-Birne taucht ein 13-jähriger Junge in Trainingsanzug auf, sagt „Dobry wieczor“ (Guten Abend) und wischt sich mit einer müden Geste über die schwarz verschmierte Stirn. „Das ist einer von den Jungs, die Kohlen sammeln und damit ihre Familien über Wasser halten.“

Agnieszka, Karols sieben Jahre jüngere Frau, öffnet die Tür. Es duftet nach frischem Kaffee. „Herein, herein!“ Aus dem Kinderzimmer ist das Bzzzz-piff-paff eines Computerspiels zu hören. Der sechsjährige Kamil haut wild auf die Tasten, aber der Roboter kann den Weg durch das Labyrinth nicht finden. „Mann“, nörgelt Kamils ältere Schwester Karolina, „gleich macht er schlapp, gib ihm Power!“ Plötzlich wird der Bildschirm mit einem langgezogenen Euuuh schwarz. Zu spät. Das Spiel ist aus. „Hallo, Papa“, ruft die achtjährige Karolina und umarmt ihren Vater.

„Viel zu zeigen gibt es nicht“, sagt Agnieszka. Die Wohnung besteht aus nur zwei Zimmern, einer kleinen Küche und einem winzigen Bad. Aber sie ist frisch renoviert, hell und freundlich. Auch die Möbel sind neu und modern. „Karol bringt von Opel rund 1.700 Zloty (417 Euro) nach Hause. Ein Drittel des Gehalts geht für Steuern und Versicherungen drauf. Wenn wir die Miete abziehen, bleiben 1.080 Zloty (270 Euro) übrig, von denen wir vier leben müssen.“ Karol nickt seiner Frau zu. Es ist klar, wer im Haus die Ausgaben plant.

Die 27-Jährige stellt drei Gläser Kaffee auf den Tisch. „Ich komme wie Karol aus einer Bergarbeiterfamilie“, erzählt sie. „Aber als das Bergwerk pleite ging, stand mein Vater als Frührentner da. Er hatte ja nichts anderes gelernt.“ Auf dem Tisch liegen die neuesten Nummern von euroregiony und Magazyn Strefa – beide Magazine mit Artikeln über die Entwicklung der Sonderwirtschaftszone Gleiwitz. Zwar ist General Motors nach wie vor der größte Investor, doch seit 1998 sind weitere 34 Firmen in der steuerbegünstigte Zone gezogen. Das lässt hoffen.

„Wenn General Motors mal pleite gehen sollte, dann werden wir nicht wie jetzt die Opelaner in Bochum auf der Straße stehen“, meint Agnieszka. „Wir stecken alles, was wir irgendwie sparen können, in die Ausbildung unserer Kinder und in unsere eigene. Auch der Bürgermeister gibt sich wirklich Mühe, neue Firmen nach Gleiwitz zu holen.“ Sie schlägt eines der Magazine auf: „Die EU will ja nicht, dass es diese Sonderwirtschaftszonen weiter gibt. Wegen gleicher Konkurrenzsituation oder so.“ Sie blättert, sucht den Artikel: „Hier steht’s: Bis 2017 wird die Zone noch existieren. Bis dahin müssen wir es geschafft haben.“

Karol schaltet den Fernseher an. Er will Nachrichten sehen. Vor allem interessiert ihn die Situation in Bochum. „Die Zeitungen haben fast nichts über unsere Solidaritätsaktion mit den Kollegen in Bochum gebracht“, erzählt er. „Aber das Fernsehen hat den ganzen Tag berichtet. Das war toll.“

Agnieszka schüttelt den Kopf. „Die Arbeiter in Bochum verdienen dreimal so viel wie wir. Gut, in Deutschland kostet alles ein bisschen mehr. Aber trotzdem. Bessere Autos als wir bauen sie auch nicht. Also wenn ich entscheiden müsste, würde ich die Produktion des Zafrira auch nach Polen verlagern.“

Karol legt ihr die Hand auf den Arm: „Weißt du noch, als die erste Belegschaft nach Rüsselsheim gefahren ist, um dort zu lernen, wie man den Astra baut? Und weißt du, wer jetzt bei uns im Werk lernt, wie es geht? Die Ukrainer! Irgendwann kommen die Russen, und dann macht General Motors Opel Polska zu. Vielleicht sind ja dann die Deutschen mit uns solidarisch.“ Agnieszka blickt skeptisch. Später am Abend wollen die beiden noch rüber gehen zu Agnieszka Eltern und die deutschen Nachrichten gucken. Sie verstehen zwar nicht so richtig, was dort gesagt wird, aber die Bilder seien ja auch schon sehr aussagekräftig.

Das Telefon klingelt. Mirek, ein Solidarsność-Kollege Karols aus dem Opel-Werk ist am Apparat. Wenn etwas Wichtiges sei, könne man ihn morgen ab neun Uhr zu Hause erreichen. Er habe Spätschicht. Karol legt den Hörer auf. „Wir haben fast gleichzeitig bei Opel angefangen. Ich war damals Chauffeur bei einem Unternehmer, er baute Panzer bei Bumar. Aber nach 1989 brauchte die Welt nicht mehr so viel Panzer, Gott sei Dank. Für Mirek fing mit Opel auch ein neues Leben an.“

Mirek, der nicht mit vollem Namen genannt werden möchte, wohnt direkt in Gleiwitz. Er ist zwar schon 33 Jahre alt, wohnt aber noch bei den Eltern. „Das ist praktischer so. Ich bin Junggeselle. Mutter kocht sowieso Mittagessen. Und ich kann meinen Eltern helfen, wenn was anliegt.“ Sein Zimmer ist klein und sehr aufgeräumt. An den Wänden hängen Bilder, die Vater und Bruder gemalt haben: Schiffe auf hoher See, auch Landschaftsbilder mit Ross und Reiter.

„Ich bin zwar auch bei Solidarność aktiv, aber ich wollte weiter Autos bauen“, sagt Mirek. Verwaltungskram interessiere ihn nicht so sehr. Er deutet auf einen großen Pokal. „Den habe ich dieses Jahr gewonnen. Ich bin passionierter Modellbauer. Vor allem Schiffe interessieren mich.“ Auf dem Regal über den Schreibtisch steht ein fast ein Meter langes Modellsegelschiff. „Alles aus Papier. Da ist Präzisionsarbeit und viel Geduld nötig.“

Er glaubt, dass ihm sein Hobby bei der Opel-Karriere viel geholfen hat. „Man lernt, seine Wut zu beherrschen.“ Fehler könnten immer passieren, aber meistens lasse sich etwas retten. „Ich bin jetzt schon Teamleader. Das heißt, wir arbeiten beim Schweißen zu fünft oder sechst zusammen. Ich mag es nicht, den Chef rauszukehren. Aber irgendwann werde ich eine Gruppe von 40 Leuten leiten.“ Die psychologischen Tests hat er alle schon bestanden.

Dass es General Motors schlecht geht und es Entlassungen geben würde, hatte er schon früh gehört. Er streicht sich über den leicht struppigen Vollbart. „Natürlich verdienen die Deutschen mehr als wir, aber wir verdienen dafür mehr als die Ukrainer und als die Russen. Irgendwann, eines Tages, trifft es uns. Dann werden wir entlassen.“ Mit einem Taschentuch poliert er einen kaum sichtbaren Fleck weg. „Viel können wir nicht tun für unsere deutschen Kollegen. Aber das Mindeste ist, unser Mitgefühl zu zeigen, unsere Solidarität.“