Ein Tee auf die Gerechtigkeit

Sehnsucht nach Poesie: Installationen sind die Glanzpunkte der achten Kunst-Biennale in Istanbul. Doch gegen die schier überwältigende Energie der Millionenmetropole kommen selbst sie kaum an

von BRIGITTE WERNEBURG

Eine der vielen leer stehenden Lagerhallen am Hafen, „Antrepo No. 4“, ist der Hauptschauplatz der achten Istanbul Biennale. Hier ist Tania Brugueras Installation zu finden, die der ganzen Schau den Namen gab: „Poetic Justice“. Auf der letzten documenta in Kassel konfrontierte die kubanische Künstlerin die Besucher noch aggressiv mit gleißendem Licht, das vom irritierenden Lärm begleitet war, den das Hantieren mit Gewehren verursacht. In Istanbul hat sie nun ein stilles, meditatives Teehaus gebaut.

Dämmriges Licht durchflutet die schmale, warme Kammer, deren Seitenwände sie mit tausenden von braunen, gebrauchten, aber wohlriechenden Teebeuteln auspolsterte. An fünf Stellen sind sie durch winzige Videomonitore ersetzt. Auf ihnen laufen Clips aus Schwarzweißfilmen, deren Schauplätze man in Japan lokalisieren möchte und die dennoch keine Teehauszeremonien zeigen, sondern Situationen schwer deutbarer Gewalt.

Die kleinen Bilder lassen kaum erkennen, ob hier geimpft, tätowiert oder einfach gequält wird. Doch das eine mag auch das andere bedeuten: ähnlich wie das Getränk Tee seinen globalen Siegeszug als Produkt kolonialer Ausbeutung antrat, wobei durchaus eine große und alte Kultur seiner Zubereitung und seines Genusses mitexporiert wurde. Dass wir, die Importeure, trotzdem beim Teebeutel gelandet sind, ist vielleicht ausgleichende Gerechtigkeit für unsere allzu pragmatische Natur, über deren ökonomischen und kulturellen Charakter wir in diesem betörend duftenden Ort dann doch ins Grübeln kommen.

Dass Don Cameron, der Kurator, den Titel dieser Arbeit für die ganze Ausstellung gelten ließ, deutet auf ihr politisches Anliegen hin, das freilich deutlich durch ästhetische Überlegungen gefiltert sein will. Man könnte vermuten, der Titel richte sich auch gegen den Größenwahn von „Infinite Justice“, wie die Militäroperation zunächst hieß, mit der die USA vor zwei Jahren in Afghanistan ihren Feldzug gegen den islamistischen Terror starteten. Don Cameron stammt aus New York, wo er Kurator am New Museum of Contemporary Art ist. Wie tritt man ausgerechnet als Amerikaner in Istanbul auf, einer Metropole mit vermutlich 16 Millionen Einwohnern, die in ihrem Straßenbild nicht weniger weltoffen, liberal und modisch up to date wirkt als jede andere Weltstadt?

In einer Metropole, die freilich in einem Land liegt, in dem westlich-demokratische Ansprüche mit einem erstarkten politischen Islam ringen? Das ein Konfliktmuster aufweist, das vor allem von amerikanischer Seite zum globalen Systemkonflikt schlechthin erklärt wird? Poesie mag hier das Mittel sein, jene regionalen und lokalen kulturellen Ausprägungen dessen, was man als gerecht empfindet, wieder in die Diskussion einzuführen, um den aufklärerisch universellen Begriff der Gerechtigkeit so zu differenzieren, dass sein Glanz nicht wohlfeile Behauptung ist.

Dieser echte Glanz ließ sich in der Arbeit der palästinensischen Künstlerin Emily Jacir finden. Auf den ersten Blick wirkt „Wo wir herkommen“, ausgestellt in der fast sechshundert Jahre alten Kanonengießerei Tophane, einem weiteren Schauplatz der Biennale, erst einmal nur wie eine sehr sorgfältig ausgearbeitete Politreportage. „Wenn ich irgendwo in Palästina etwas für dich tun könnte, was wäre das?“, fragte Emily Jacir für ihre Foto- und Videodokumentation ihre im Exil lebenden Landsleute. „Geh zum Grab meiner Mutter in Jerusalem an ihrem Geburtstag“, „leg Blumen nieder und bete“, „spiele Fußball mit den ersten Jungen, die du siehst“, waren die Antworten. Mit diesen Anleitungen der Beteiligten ergänzte Emily Jacir die Bilddokumentation ihrer Versuche, die Wünsche zu befriedigen. In der erstaunlichen Schlichtheit der meisten Wünsche, die ihre Erfüllung leicht machen sollte, gewann die Idee der poetischen Gerechtigkeit Raum und Profil.

Seit ihrem Beginn 1987 bezieht die Biennale historische Orte des alten Konstantinopel in ihren Ausstellungsparcours ein. Neben Tophane und der alten justitianischen Zisterne aus dem Jahr 532 war dieses Mal sogar die Hagia Sophia Ausstellungsort. Die Auswahl der hier gezeigten Arbeiten wurde dieser riskante Entscheidung allerdings nicht gerecht. Im Umfeld der machtvollen Kirchenarchitektur wirken die Installationen, Videos und direkten Interventionen wie Tony Fehers blaues Klebeband, das eine Reihe von Fenstern bedeckt, oder Dora Garcias unzugängliches Haus unzutreffend und deplatziert.

Besser platziert sind dagegen die vier Konstruktionen des brasilianischen Künstlers Cildo Meireles an der Kreuzung dreier Straßen im Pera-Distrikt, wo noch immer die prächtigen Botschaften der europäischen Mächte aus dem 19. Jahrhundert zu finden sind. Meireles offeriert Obdachlosen ein durch die belebten Straßen getrenntes 4-Zimmer-Apartment, in dem sie sich – leider nur während der Öffnungszeiten der Ausstellung – Tee kochen, ausruhen und aufhalten können.

Überhaupt sind die wenigen Installationen die Glanzlichter der Biennale. Die Himmelstreppe aus rotem Tüll, die Do-Ho Suh aus Korea luftig beschwingt unters Dach der Lagerhalle am Hafen steigen lässt, spricht vom Verlangen nach Poesie wie der mit Einschusslöchern übersäte Glaskasten, an den Monika Bonvicini ihre Treppe ins Untergeschoss an massive Stahlketten gehängt hat.

Im Untergeschoss herrscht dann die inzwischen wohl bekannte Dunkelheit, denn hier möchte ja das Licht der Videoarbeiten den Wahrnehmungshorizont der Besucher erhellen. Doch das künstlerische Potenzial des Mediums ist erschöpft. Die Arbeiten, die technisch nur selten State of the Art sind, kommen über das Geschichtenerzählen nicht hinaus. Jennifer Steinkamps Baum, der sich im digitalen Wind bewegt, wie man sich einen Baum bisher nicht hat bewegen sehen, ist aufregender als Seifollah Samadians dröge Beobachtung einer Spinne, die ihr Netz baut. Und Runa Islams hyperästhetische Doppelprojektion aus einem Restaurant und einem Parkhaus wirkt interessanterweise beunruhigender als die fanatisierten Fankurven, die Stephen Dean in brasilianischen Fußballstadien aufnahm.

Am Ende hat man trotzdem den Eindruck, das alles sei eben doch nur Sony. „Sony“, wie die böse Installation des Mexikaners Yoshua Okon heißt, die aus der Skulptur eines Anzugträgers auf allen vieren besteht, der auf eine Wandprojektion des Firmennamens schaut, freilich mit heruntergelassener Hose und einer Sony-Videokamera, die in seinem nackten Hinterteil steckt.

Die Wege zwischen den Ausstellungsorten tun ein Übriges, die Arbeiten der Künstler zu entwerten. Überall in der Stadt meint man die poetischeren Bilder zu sehen, die verstörenderen Eindrücke zu bekommen. Die rastlose Energie ihrer Bewohner scheint überwältigend. Morgens um drei ist der Taksim-Platz und die Istiklal Caddesi mit ihren armenischen, griechisch-orthodoxen und katholischen Kirchen, ihren Galerien und Kunstprojekten noch immer voll Leben. Stadtreinigung, jugendliche Clubgänger und Händler, die nun endlich am Aufräumen sind, mischen sich, und es ist leicht zu erkennen, dass Istanbul zu den Metropolen des 21. Jahrhunderts zählen wird.

„Poetic Justice“ hieße, diesem Bild zu trauen. Doch man wird den Verdacht nicht los, die Angst vor diesem Potenzial an Menschen und Ideen – und nicht so sehr die Defizite an Demokratie und Menschenrechten, nicht zu reden vom angeblich kulturell nicht integrierbaren Islam – verhindere es, dass die Türkei Mitglied der EU wird.

Bis zum 16. November, Katalog 25 €