Der Mann ohne Partei

Der Vize rückt auf. Mit dem Historiker Carlos Mesa wird ein namhafter Parteienkritiker neuer bolivianischer Präsident

BUENOS AIRES taz ■ Vielleicht hatte er schon eine Ahnung davon, was auf Bolivien zukommen würde, als er im September vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen sprach. „Wir können nicht Wirtschaftswachstum und Wohlstand für einige wenige schaffen und erwarten, dass die davon ausgeschlossene Mehrheit stumm und geduldig zusieht“, sagte Carlos Mesa als stellvertretender Präsident Boliviens in New York. Kaum einen Monat später ist es soweit. Die vom Reichtum des Landes ausgeschlossene Mehrheit hat am Freitag den Präsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada gestürzt – und seinen Vize Mesa damit zum neuen Staatschef gemacht. Laut Verfassung kann Mesa das Mandat seines Vorgängers zu Ende führen, das erst im Jahr 2007 zu Ende geht.

Mesa ist ein Neuling in der bolivianischen Politik. Erst vor 14 Monaten ist er als Stellvertreter von Sánchez de Lozada in das politische Geschäft eingestiegen. Er erhielt den Auftrag, den Kampf gegen die Korruption zu führen. Doch weit kam er dabei nicht. Als Mesa vor einigen Monaten aufdeckte, dass 400 Kadetten der Militärakademie zum Ernteeinsatz auf der Hacienda der Exfrau von Außenminister Carlos Saavedra Bruno verdonnert worden waren, wurde er gleich doppelt ausgebremst. Zuerst vom inzwischen abgetretenen Verteidigungsminister Freddy Teodovich und dann auch noch von Sánchez de Lozada selbst.

Schon damals rumorte es zwischen dem Präsidenten und seinem Vize, doch Mesa hielt still. Auch als sich vor einem Monat die ersten Proteste gegen die Regierung regten, blieb er ein treuer Diener seines Chefs. Erst als Sánchez de Lozada das Militär auf unbewaffnete Demonstranten schießen ließ, kam es zum Bruch. Vergangenen Montag versagte ihm Mesa die Gefolgschaft. Damit hatte der Staatschef einen seiner engsten Verbündeten und politischen Freunde verloren. Und Mesa hatte einen ersten Schritt Richtung Präsidentenpalast getan. Denn trotz seiner Kritik an Sánchez de Lozada lehnte er es ab, von seinem Amt zurückzutreten – der Historiker Mesa witterte seine Chance, selbst Geschichte zu schreiben.

Ohne eigenes Parteibuch gefällt sich Mesa darin, das Parteiensystem Boliviens zu kritisieren. Erst kürzlich sagte er: „Die politischen Parteien haben zur Machterhaltung ein geschlossenes und korruptes System aufgebaut, das sehr große Teile der Bevölkerung ausschließt.“ Dabei stand er als Vizepräsident selbst mitten drin im bolivianischen Parteiensumpf und war Mitglied einer Regierung der traditionellen bolivianischen Oligarchie. Und als Politiker hatte er sich an Sánchez de Lozadas Partei Nationalistische Revolutionäre Bewegung (MNR) angelehnt.

Aber auch ohne politisches Amt hat es Mesa zu großem Einfluss in Bolivien gebracht. Der heute 50-Jährige war stellvertretender Chefredakteur einer Tageszeitung und leitete mehrere Fernsehkanäle. Inzwischen ist er Mehrheitseigner eines TV-Senders. Als Journalist machte er sich vor allem als Kommentator einen Namen. 1994 wurde ihm dafür der Journalistenpreis des spanischen Königs überreicht. Zu den publizistischen Arbeiten Mesas gehören auch zahlreiche Bücher zur Geschichte Boliviens. Eines davon ist ein Bestseller geworden. Das Thema: die bolivianischen Präsidenten. INGO MALCHER