Ehebruch entzweit Türkei und EU

Die türkische Strafgesetzreform ist auf Eis gelegt. Streitpunkt: Strafe für Ehebruch. EU-Kommissar Verheugen: Ohne Reform keine Beitrittsverhandlungen

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

Der Sturm braute sich nicht gerade aus heiterem Himmel zusammen, aber mit einem politischen Tief dieses Ausmaßes hatte doch kaum jemand gerechnet. Drei Wochen bevor die EU-Kommission ihren entscheidenden Fortschrittsbericht zur Türkei vorlegen wird, sind der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan und EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen frontal aneinander geraten. Es geht um die Strafrechtsreform in der Türkei. Am Freitag hatte Erdogan getönt: „Wir sind die Türkei, wir sind Türken. Wir werden selbst entscheiden.“ Am Sonntag bekam er von Verheugen eine an Deutlichkeit nicht mehr zu überbietende Antwort: „Jetzt kommt der Moment der Wahrheit. Die Türkei muss die Kraft aufbringen, traditionelle türkische Werte mit europäischen Werten zusammenzubringen. Die europäischen Werte sind nicht verhandelbar“, sagte Verheugen Bild am Sonntag.

Der Auslöser für den Knall war vergleichsweise banal. Nach jahrelangen Diskussionen in verschiedenen Parlamentsausschüssen, Expertenkommissionen und Lobbygruppen sollten die Abgeordneten der türkischen Nationalversammlung in der letzten Woche ein neues Strafgesetzbuch verabschieden. Das im Wesentlichen aus dem Jahr 1926 stammende Werk soll durch ein modernes, an europäischen Normen orientiertes ersetzt werden.

Anfang September hatte eine Gruppe Abgeordneter der regierenden AKP plötzlich die Forderung aufgestellt, in den bereits fertigen Gesetzentwurf einen Passus einzufügen, der Ehebruch unter Strafe stellt. Die Opposition und der größte Teil der Medien gingen auf die Barrikaden und alle Welt erwartete, dass die Parteiführung nach einigen Tagen Diskussion sich der Kritik anschließen und dafür sorgen würde, dass der umstrittene Zusatz im Parlament nicht eingebracht würde. Genauso kam es. Am Dienstag einigten sich Außenminister Gül, Justizminister Cicek und Oppositionsführer Baykal darauf, die Justizreform einvernehmlich durchzuführen und nur solche Paragrafen zu verabschieden, auf die man sich im Ausschuss bereits verständigt hatte. Der Sturm schien sich gelegt zu haben. Bis Ministerpräsident Tayyip Erdogan am Mittwoch von einer Auslandsreise zurückkam.

Plötzlich hieß es, die besonders religiöse Milli-Görüs-Strömung innerhalb der AKP-Fraktion bestehe mit Rückendeckung des Ministerpräsidenten darauf, Ehebruch in irgendeiner Form zu bestrafen. Wenigstens wolle man einen Paragrafen, der „sexuelle Untreue“ mit einem Jahr Knast, mindestens aber mit einer Geldstrafe belegt. Der Konflikt war zur Wertefrage eskaliert. Damit brach ein seit langem innerhalb der islamisch grundierten Regierungspartei schwelender Streit um die Zugeständnisse an die säkulare Gesellschaft und die EU zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt offen aus. Der reaktionäre Teil der AKP revoltierte. In dieser Situation stellte sich Erdogan nicht hinter seinen Stellvertreter und Außenminister Abdullah Gül, sondern versuchte, die „Pressionen aus Brüssel“ dafür verantwortlich zu machen, dass in seiner Partei das Chaos ausbrach. „Die EU“, donnerte er, „hat sich nicht in die Parlamentsberatungen einzumischen.“ Das Parlament vertagte sich auf Anfang Oktober. Zuvor hatte ein Sprecher Verheugen gesagt, die rechtzeitige Verabschiedung der Strafrechtsreform sei wesentlich für ein positives Votum der Kommission zur Frage von Beitrittsverhandlungen.

Verheugen, selbst in der Kommission unter Druck, weil eigentlich zu einer positiven Empfehlung entschlossen, entschied sich dafür, jetzt aufs Ganze zu gehen. Am Samstag wurde der türkische Botschafter in Brüssel, Oguz Demiralp, einbestellt. Verheugen verlangte Aufklärung. Am Sonntag dann konnte Erdogan sein Ultimatum der Presse entnehmen: Der Bericht der Kommission, für den 6. Oktober geplant, wird nicht verschoben. Solange das neue Strafrecht – ohne eine Kriminalisierung von Ehebruch – nicht verabschiedet ist, wird es keine Beitrittsverhandlungen geben.