Dieter Baumann: Olympia-Kommentar
: Nennt sie bitte nicht „Olympiatouristen“!

Olympiasieger Dieter Baumann verteidigt die deutschen Leichtathleten gegen undifferenzierte öffentliche Kritik

Die niedrige Erwartungshaltung an die Leichtathleten war zu Beginn der Olympischen Spiele ein Vorteil. Jede Medaille war zunächst eine große Überraschung. Allerdings hielt dieser Vorteil nicht lange. Mit dem Ausscheiden des 400-Meter-Europameisters Ingo Schultz und im allgemeinen Taumel der Medaillen- und Nationenwertung war die Schonfrist schon nach drei Tagen zu Ende. Zunächst hatte Nadine Kleinert mit ihrer tollen Leistung und der Silbermedaille die Gemüter – noch – beruhigen können. Jetzt werden die Stimmen wie immer lauter, die von Enttäuschung, von fehlender Leistungsbereitschaft und Siegeswillen, von Olympiatouristen sprachen.

Die Mannschaft der Leichtathleten ist groß. Über 70 Athletinnen und Athleten konnten sich in diesem Jahr für die Olympischen Spiele qualifizieren. Es sind die besten Athletinnen und Athleten, die wir in unserem Land haben. Viele sind deutsche Meister und konnten sich auch bei Meetings gegen internationale Konkurrenz durchsetzen. Ich meine, das ist Grund genug, diesen Athleten auch die Möglichkeit zu geben, bei den Olympischen Spiele zu starten.

Aufgrund dieser großen Mannschaft werden viele deutschen Leichtathleten leer ausgehen, werden nicht über den Vorlauf hinauskommen, aber, und das ist wichtig, es ist für die Athleten selbst keine Niederlage. Manche werden ihre eigenen Erwartungen weit übertreffen, über sich hinauswachsen und einen vorderen Platz belegen. So wie Melanie Seeger im 20 Kilometer Gehen (5.) oder Sonja Kesselschläger im Siebenkampf (6.). Ja, das sind keine Medaillen, aber es ist absolute Weltklasse.

Junge Athleten müssen für kommende Aufgaben Erfahrung sammeln, und doch wird leider den meisten das nötige Talent auf dem Weg zur absoluten Spitze fehlen. Sie werden nie eine Medaille gewinnen können. Nur ein paar wenige werden sich im Laufe ihrer Karriere eine Medaillenchance erarbeiten, und das liegt nicht nur an den körperlichen Voraussetzungen. Zum Talent gehört auch eine entsprechende Lebensplanung, der richtige Beruf oder das richtige Studium, der Freundeskreis und am Ende auch die passende Lebensführung. Manche entscheiden sich zwar für den Leistungssport, leben aber nicht dafür. Erst wenn alle Hindernisse gemeistert sind, könnte es klappen. Aber selbst ganz oben kann ein kleiner Fehler die Medaille kosten, spielen individuelle Parameter in der Vorbereitung und oft – auch das sollten wir akzeptieren – der Zufall eine gewisse Rolle. Aus der großen Schar der Athleten sind es nur Einzelne, die das Talent mitbringen, das Glück haben und im entscheidenden Moment die Nerven, um tatsächlich die ersehnte Medaille zu gewinnen.

Aus all diesen Gründen waren es in den letzen Jahren in der Leichtathletik wenige, die Medaillen holten. Nun könnte man eine Strukturdiskussion beginnen, ob alles richtig läuft beim Deutschen Leichtathletik-Verband. Wer macht Fehler beim DLV? Ist es der Leistungssportdirektor, der Cheftrainer, die Bundestrainer oder liegt die Schuld bei den Heimtrainern? Am Ende sind es vielleicht doch die Athleten selbst?

Wie schwierig generell eine Analyse ist, zeigen zwei Beispiele aus den ersten Tagen:

Die Diskuswerferin Franka Dietzsch, normalerweise eine Bank im deutschen Team, warf im ersten Versuch in der Qualifikation über die geforderte Weite, kam aber mit ihre Schuhspitze wenige Millimeter über den Ring, und damit war der Versuch ungültig. Bei den zwei verbliebenen Versuchen warf sie weit unter ihren – vor nur wenigen Minuten! – gezeigten Möglichkeiten. Konnte sie auf Grund eines fehlerhaften Trainingsaufbaus ihre Leistung nicht abrufen? Wohl kaum, denn sie warf deutlich über die geforderte Marke.

Zweites Beispiel: Charles Friedek, der Dreispringer. Zu Beginn der Saison sprang er weit über 17 Meter und war damit ein Kandidat für eine Medaille. Friedek ist erfahren, war 2001 Weltmeister, er weiß, wie es geht. Aber im Verlauf der Saison kamen Verletzungsprobleme, und bis kurz vor Athen stand sein Start nicht fest. Trotzdem reiste er an, sprang einmal und verletzte sich erneut. Ist das falsche Steuerung des Cheftrainers oder ungenügende Kompetenz des Heimtrainers?

Um Leistungseinbrüche zu erklären, hilft in den nächsten Tagen kein lautes Schreien, helfen keine schnellen Schuldzuweisungen oder Verantwortungsverschiebungen. Diese Art der Diskussion ist während der Spiele nicht hilfreich. Das Gerede von Krise, von Schlappe oder Niederlage bringt keinen der noch startenden Athleten einen Platz weiter nach vorne. Im Moment hilft vielmehr der Glaube an die Stärke der noch startenden Athleten Tim Lobinger oder Danny Ecker, Boris Henry oder Steffi Nerius. Und eine Überraschung ist immer drin: Wie wäre es mit René Herms (800 m), dem Sprinter Tobias Unger oder der 4x100-Meter-Staffel der Männer?

Ich bin mir sicher, all die Genannten können das. Eine Medaille haben sich die Leichtathleten bereits geholt, immer noch können es fünf oder sechs werden, weit mehr als in Paris vor einem Jahr.

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