Allein gegen die Kameras

Innenstadtkosmetik mit Kamera, sagt Saeftel, richte sich oft gegen Obdachlose, nicht gegen Verbrecher

aus Mannheim HEIDE PLATEN

Das Wasser des Tritonbrunnens plätschert an diesem sonnigen Tag in die bronzenen Muschelschalen. Im Eiscafé Fontanella wird Kaltes serviert, an der Ostseite des Mannheimer Paradeplatzes halten die Straßenbahnen, im Westen liegen Stadthaus und Ratssitzungssaal. Urbanes Leben rundherum, auf den Sandsteinmäuerchen der Rasenrabatten sitzen Studenten und Rentner nebeneinander. Hoch oben über den Köpfen wacht das Auge des Gesetzes über alles, was sich regt, über Gerechte und Ungerechte. Auf schlanken Masten stehen seit Juli 2001 Videokameras: Zwei auf dem Dach der Buchhandlung Kober und zwei auf dem Stadthaus sind von unten zwischen Antennen und Sendeanlagen nur dann zu entdecken, wenn man sie gezeigt bekommt.

Dem Mannheimer Rechtsanwalt Christoph Saeftel missfällt dieses Modellprojekt. Der 37-Jährige hat vor dem baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshof gegen die Videoüberwachung in der übersichtlich in Quadraten angelegten, ehemals kurfürstlichen Residenzstadt geklagt. Er hat verloren, aber aufgeben wird er nicht.

Saeftel versteht sich als Anwalt der Bürgerrechte. Vor seiner Kanzlei in einem Hinterhofhaus nahe dem Hauptbahnhof serviert er zwischen Efeu und wildem Wein Getränke und rekapituliert seinen Werdegang. Er redet schnell und gibt zu, dass er „ein bisschen eitel“ sei. Aber das gehört auch ein wenig zum Beruf eines Rechtsanwalts. Aufgewachsen ist Saeftel in Frankfurt am Main. Die Familie mütterlicherseits war dort seit dem 19. Jahrhundert gesellschaftlich und politisch aktiv, der Ururgroßvater einer der Mitbegründer der angesehenen Frankfurter Zeitung. Ururopas Porträt hat er gerade geerbt, es steht vorerst nebst Goldrahmen auf dem Sofa neben einem schweren Eichenschrank. Der Vorfahre blickt ernst durch eine ovale Intellektuellenbrille, zwei kritische Falten über der Nasenwurzel, sein stattlicher, grauer Bart reicht bis zur Brust. Der Nachfahre ist unkonventioneller, aber auch in Jeans der Familientradition treu, ein kämpferischer Demokrat.

Christoph Saeftel studierte in Mannheim Jura, dann in Berlin Politologie und Soziologie. „Diese Diskussionen im luftleeren Raum sind mir dann tierisch auf den Geist gegangen.“ Und außerdem dauerte der Berliner Winter zu lang und war zu grau. Er kehrte in die wärmeren Gefilde nach Mannheim und zur Juristerei zurück.

Mannheim, sagt er, das sei eigentlich eine schöne Stadt, eine zum Kennenlernen und nicht nur ein Industrie- und Chemiestandort. Die große Politik interessiere ihn nicht so sehr wie seine nahe Umgebung, deren Planung und Architektur, das urbane Leben. Er engagierte sich vor Ort, gegen einen Parkplatz im Viertel, für mehr Lebensqualität. Deshalb trat er 1986 in die SPD ein und dann 1991 wieder aus, als der sozialdemokratische Oberbürgermeister es billigte, dass Demonstranten verprügelt worden waren. 1994 versuchte er es mit den Grünen, fühlte sich aber auch dort nicht zu Hause, obwohl er sich selbst als „links von der Mitte der Gesellschaft“ einordnet. Er sei eben ein „Außenseiter“. Für den „sehr linken Kreisverband“, meint er, sei er „wohl zu liberal“ gewesen. Ende Juli ist er ausgetreten.

Auch in seinem Kampf um die Bürgerrechte hatte er sich von den Grünen nicht genug unterstützt gefühlt. Das, sagt er, sei aber nicht nur ein Problem der Grünen, sondern Datenschutz und informationelle Selbstbestimmung seien eigentlich derzeit in der Gesamtgesellschaft kein Thema: „Die Leute haben andere Sorgen.“ Zu viele gebe es, die Einschränkungen individueller Freiheit mittlerweile „als selbstverständlich ansehen und akzeptieren“. Zur Verteidigung der Bürgerrechte sehe er noch am ehesten Verbündete bei den Freien Demokraten. Die Mannheimer Jungliberalen haben ihm für die Zukunft Unterstützung zugesagt.

Gegen die Überwachung so genannter Kriminalitätsschwerpunkte, sagt Saeftel, habe er eigentlich gar nichts. Mannheim im Ballungsraum Rhein-Neckar sei nun einmal Anziehungspunkt auch für Drogenhändler und Kriminelle: „Ich verstehe, dass die Bürger da nervös werden.“ Ehemalige Treffpunkte wie das Neckartor seien durch die Überwachung aufgelöst worden. Es sei aber trügerisch, anzunehmen, dass die Probleme sich durch Verdrängung nicht anderswohin verlagerten, zum Beispiel in die Wohngebiete. „Innenstadtkosmetik“, die sich dann eher gegen Obachlose als gegen wirklich gefährliche Verbrecher richte, sei kontraproduktiv oder, bestenfalls, sinnlos. Der Verwaltungsgerichtshof ist dieser Argumentation nicht gefolgt. Die Verlagerung der Kriminalität, so urteilten die Richter, sei nicht erwiesen und zudem die Überwachung ohnehin nur Teil eines noch dazu personalsparenden Gesamtkonzeptes. Die Kriminalität sei laut Polizei tatsächlich gesunken.

Rechtsgrundlage der Mannheimer Maßnahmen ist das Polizeigesetz. Die Aufnahmen müssen nach 48 Stunden wieder gelöscht werden – es sei denn, sie könnten weiterer Starfverfolgung dienen. Saeftel beruft sich dagegen auf das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1983, das das Grundrecht der Bürger auf die individuelle Verfügungsgewalt über ihre persönlichen Daten gestärkt hatte. Auch die Baden-Württemberger Verwaltungsrichter haben in ihrer Entscheidung festgestellt, dass die Videoüberwachung die informationelle Selbstbestimmung einschränke. Aber der Bürger habe, so erklärte der Erste Senat, „keine absolute Herrschaft“ über seine Daten. Wenn das „überwiegende Allgemeininteresse“ betroffen sei, müssten Einschränkungen hingenommen werden. Kriminalitätsschwerpunkte dürften deshalb „im Vorfeld konkreter Gefahren zur Verhinderung und vorbeugenden Bekämpfung“ präventiv observiert werden. Die Überwachung geschehe nicht flächendeckend und sei zudem öffentlich bekannt, weil durch Schilder in drei Sprachen auf sie aufmerksam gemacht werde. Auch die Argumentation Saeftels, dass ebenso wie Geschäfte und Platz auch die Stände politischer Parteien und Organisationen beobachtet werden, verfing vor Gericht nicht.

Saeftel findet, dass Überwachung gerechtfertigt sein muss und nicht auf Dauer angelegt sein darf. Alles andere hält er für „demokratiebedenklich“. Es fördere, fürchtet er, „die Blockwartmentalität, die gerade in Deutschland bei vielen noch dahintersteckt“ und Spitzel und Spione heranzüchtet. Was mit deutscher Gründlichkeit als Gesetz einmal in der Welt sei, sei „wie für die Ewigkeit gemacht“ und verschwinde so schnell nicht wieder, „eher noch in den USA als bei uns“. Er glaube zwar nicht, dass heutzutage eine der Regierungen der Bundesrepublik, welcher Couleur auch immer, „Schindluder“ mit den Daten treibe. Dennoch sieht er in gesetzlich abgesicherter Dauerüberwachung eine Gefahr: „Was wissen wir denn, was kommt?“

Außerdem sei die gerade von der CDU propagierte Sicherheitspolitik der Überwachung auch deshalb gefährlich, weil sie einerseits ein Gefühl der Unsicherheit schaffe und damit Angst schüre, wo diese gar nicht notwendig sei, andererseits aber „als ein Placebo“ ein falsches Sicherheitsgefühl suggeriere. Seine eigene Großmutter habe sich in ihrer Wohnung eingeigelt: „Sie hat in einem Safe gelebt mit einer Tür, die jeder Bank zur Ehre gereicht hätte.“

Das Verwaltungsgericht hatte sich in seinem Urteil von kleineren Polizeierfolgen leiten lassen. Der Taschendiebstahl sei allgemein zurückgegangen, einige Täter identifiziert worden. Trickdiebe aber, sagt Saeftel, lassen sich durch Überwachungskameras kaum aufspüren. Das Wesen ihrer Kunstfertigkeit sei es gerade, dass sie dabei auch unter aller Augen nicht gesehen werden. Dass er unterlegen ist, schiebt Saeftel auch ein wenig auf das gestiegene Sicherheitsbedürfnis. Die Zahl der Armutsflüchtlinge sei seit 1989 gestiegen. Außerdem: „Vor dem 11. September 2001 hätte ich bessere Chancen gehabt.“

Gefahrenabwehr per Video, die vor Anschlägen schützen soll, hält er durchaus für sinnvoll. Aber bitte da, wo die Gefahr auch besteht, da, „wo extrem viele Menschen zusammenkommen und Anschläge wahrscheinlich sind“, zum Beispiel auf Flughäfen und Bahnhöfen oder an Orten, „die dem Verkehr dienen und nicht der Kommunikation“, Brücken zum Beispiel, dunkle, schwer einsehbare Unterführungen, nicht aber belebte Plätze mit Straßencafés und Geschäften. In den Straßenbahnen müsse nichts aufgezeichnet werden, ein Monitor für den Fahrer reiche völlig aus.

Saeftel versteht nicht, warum die Geschäftsleute um den Mannheimer Paradeplatz die Überwachung widerspruchslos hingenommen haben. Zum einen müsse es doch auch für deren Kunden unangenehm sein, dass sie beim Einkaufsbummel gefilmt würden. Außerdem sei die Einstufung des Paradeplatzes als „Kriminalitätsschwerpunkt“ auch nicht gerade das beste Standortargument. Verbündete hat er sich bei ihnen nicht gesucht.

Christoph Saeftel, erstes Grau in den hellbraunen Haaren, die grünbraunen Augen hinter der Brille, bekommt unternehmungslustige Lachgrübchen, während er sich festlegt: „Ich werde weiterklagen. Ich bin eben ein Kämpfer, auch mit harten Bandagen.“ Und er hat Beharrungsvermögen. Da, sagt er, orientiere er sich nicht nur an dem demokratischen Ururopa, sondern auch an seinem Frankfurter Großvater, einem Bankier, der unermüdlich arbeitete und dessen Selbstdisziplin er sich manchmal wünscht: „Wenn der etwas gemacht hat, dann hat er es richtig gemacht.“

Zuerst wird Saeftel also nun, da eine Revision nicht möglich ist, Beschwerde beim Mannheimer Verwaltungsgerichtshof einlegen. Wird die abgelehnt, ist dieser Rechtsweg erst einmal ausgeschöpft. Für den Gang zum Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe sucht er nun fachliche Mitstreiter: „Alleine schaffe ich das nicht mehr.“