Nomaden mit zwei Vorgärtchen

Dauercamper leben im Grenzbereich von Mobilität und Sesshaftigkeit. Vor kurzem noch verachtet als dickbäuchige Spießer und kleinkarierte „Bild“-Zeitungsleser, sind sie heute nachgerade die Avantgarde einer zeitgemäßen Lebensweise, Mischform von Flexibilität und Bodenständigkeit

Der Wohnwagen ist vor lauter Vorzelt und Plastikumrandung nicht zu sehen

von GEORG ETSCHEIT

Aus dem Jäger und Sammler, dem Nomaden, wurde der Bauer, der Bürger, der Städter. Sesshaftigkeit, Beständigkeit galten als zivilisatorischer Fortschritt. Galten! Alles schon wieder vergangen, verweht. Im Zeitalter der Globalisierung ist der Mensch längst abermals zum Nomaden mutiert. Er streift ruhelos durch die Welt, den fliehenden Arbeitsplätzen hinterher.

Doch es scheint sich eine Gegenbewegung zu manifestieren. Der unbehauste Weltenbürger sucht wieder Anschluss, Scholle, Heimat, ohne seine Mobilität aufgeben zu wollen. Pionier der neuen Sesshaftigkeit ist der Dauercamper. Vor kurzem noch verachtet als dickbäuchiger Spießer und kleinkarierter Bild-Zeitungsleser, der sich keinen ordentlichen Urlaub leisten kann, ist er heute nachgerade die Avantgarde einer zeitgemäßen Lebensweise, Mischform von Mobilität und Sesshaftigkeit. Ein Aggregatzustand zwischen der Schollengebundenheit unserer Vorväter und dem, frei nach Heidegger, existenziellen Geworfensein unserer Vorvorvorväter. Der Dauercamper als Lebensmodell der Postpostmoderne.

Wie viele Zugehörige dieser Spezies es hierzulande gibt, weiß nicht einmal der Deutsche Camping-Club zu beziffern. Schließlich sei den Zulassungszahlen bei Wohnwagen und Wohnmobilen ja nicht anzusehen, wie die Gefährte tatsächlich genutzt würden, sagt die Pressestelle. Nur so viel: Caravaning in Europa boomt. Zurzeit beläuft sich der Bestand europaweit auf 4,3 Millionen Wohnwagen und 900.000 Reisemobile. Allein in Deutschland wurden vergangenes Jahr fast 23.000 Caravans und 19.000 Reisemobile neu zugelassen.

Die Janusköpfigkeit des Dauercampers deutet sich schon im Semantischen an. Campen kommt von campus, was im Lateinischen „Feld“ heißt. Ein Camp (engl.) ist ein „Feld- oder Gefangenenlager“, was nicht besonders komfortabel klingt. Das eingedeutschte Verb „campen“ laut Herkunftsduden: „auf freiem Feld lagern, zelten“. Also: muffige Schlafsäcke, Gaskocher, die mitten bei der Zubereitung des Abendessens ihren Dienst versagen, tropfende Zeltplanen, matschige Campingplätze, versiffte Toilettenhäuser. Dem Nomen „Camper“ wohnt somit ein Durchgangscharakter inne, während der Vorsatz „Dauer“ auf Beständigkeit verweist. So viel zur Theorie.

Die Praxis: Ein Campingplatz in Utting am oberbayerischen Ammersee. Das Uttinger Freizeitgelände ist hübsch gelegen, direkt am Seeufer. Viel Grün ringsherum. Am Horizont zeichnen sich schemenhaft die Alpen ab. 180 Dauercamper teilen sich den Platz mit 150 Touristenparzellen und noch einmal 150 Zeltplätzen. Im Sommer ist das Gelände gut besucht, da geht wenig ohne Voranmeldung, sagt Pächterin Gabriele Bielmeier. Sie betreut die Rezeption, ist Kummerkasten, Schiedsstelle bei Streitigkeiten, Sanitäterin. Kurz: Mädchen für alles. Die Dauercamper liegen ihr besonders am Herzen. Manche lebten schon seit 30 Jahren hier, sagt Frau Bielmeier. „Das ist wie ein kleines Dorf, jeder kennt jeden.“ Streit gebe es eher selten.

Marlies und Georg Perzl sind echte Dauercamper. Seit zwölf Jahren besitzt das Ehepaar aus Augsburg in Utting einen Wohnwagen mit komfortablem Vorzelt und einem tipptopp gepflegten Gärtchen. Vorruheständlerin Marlies lebt den ganzen Sommer auf dem Campingplatz. Ihr Mann Georg, Elektriker, stößt an den Wochenenden und im Urlaub dazu. Auch im Winter kommen die Perzls gerne hierher. „Das ist Erholung pur“, sagt Frau Perzl. Und ihr Gatte nickt zustimmend.

Perzls haben nicht wenig Mühe aufgewandt, um ihrem Freizeit-Refugium alle Anflüge provisorischer Vorläufigkeit zu nehmen. Den Wohnwagen sieht man fast gar nicht, so perfekt ist er mit Vorzelt, Planen und Plastikumrandungen eingehaust. Auf der Anhängerkupplung stehen Blumenkästen, das Vorzelt ruht auf einem stabilen Kiesfundament und ist mit grauen Betonplatten eingerahmt. Hier hat die Sesshaftigkeit über die Mobilität einstweilen den Sieg davongetragen. Aber wenn man wollte, könnte man schnell wieder anschirren, sagt Herr Perzl. Zwei Autos stehen fahrbereit vor der Haustür. Wenn es hier nur nicht so schön wäre, am Ammersee. Der Wohnwagen selbst dient nur noch als Schlafzimmer. Schlafsäcke? Fehlanzeige. Dafür haben Perzls Federbetten. Und einen Fernseher mit Satellitenschüssel. Der steht neben dem sorgfältig abgedeckten Gasherd. Die Küche mit der Sitzecke befindet sich jetzt im geräumigen Vorzelt. Eine richtige Einbauküche, nachgerade Sinnbild bürgerlicher Beständigkeit. Da hat Georg Perzl höchstpersönlich Hand angelegt. Sogar fließendes Wasser gibt es. Perzl demonstriert stolz die Funktionsweise: Eine kleine Elektropumpe, die auf Knopfdruck in Betrieb genommen werden kann, zieht Wasser aus einem 30-Liter-Kanister. Das freilich muss aus dem Sanitärhäuschen geholt werden. Dort gibt es auch Duschen und Waschmaschinen. Die Parzellen der Dauercamper haben nur einen Stromanschluss. Gas kommt aus der Flasche – immerhin das erinnert noch an den klassischen Campingurlaub.

Immer wieder bricht sie durch, die Liebe zur Scholle. Die kleine Gartenfläche zwischen ihrem eigenen Heim und den dicht an dicht stehenden Wohnwagen der Nachbarn haben die Perzls mit deutscher Gründlichkeit ausstaffiert: mit Blumenkübeln, diversen Gartenmöbeln und einem kleinen Gartenhäuschen, in dem sich auch die Speisekammer befindet. Immer wieder wird über Verbesserungen nachgedacht, die das Leben im Grenzbereich von Nomadentum und Sesshaftigkeit noch behaglicher gestalten sollen. Als Nächstes will Frau Perzl einen Stoffhimmel ins Vorzelt spannen. „Damit man die Styroporplatten, die mein Mann zur Dämmung eingebaut hat, nicht mehr sieht.“

Zumindest erinnern noch gelegentliche Wetterunbilden daran, dass Dauercampen eine recht derbe Lebensweise sein kann. Mindestens einmal im Jahr müsse man mit einem kräftigen Sturm oder Hagelschlag rechnen, sagt Frau Perzl. Und die Bruthitze von 38 Grad im Schatten, die kürzlich im Vorzelt herrschte – dagegen kamen nicht mal drei Ventilatoren an.