Sportbegeistert ohne Grenzen

Die Frage, wer den Unfall verschuldet hat, nennt sie „nicht zielführend“

AUS LEVERKUSEN LUTZ DEBUS

Britta Siegers hat blaue Augen, die vor Begeisterung oft so sehr leuchten, dass anzunehmen ist, dass sie im Dunkeln kein elektrisches Licht benutzen muss. Und ihre Beine sind aus Kunststoff und Metall, Tennis spielt sie im Rollstuhl.

Sie belegt auf der Weltrangliste Platz Nummer 8, bereitet sich gerade auf Athen vor. Britta Siegers, Jahrgang 1966, ist eine Tennisspielerin aus Leidenschaft. Sie spielt bei den großen Turnieren in Brasilien, Australien, Korea. Auf dem berühmten Center Court von Flushing Meadows in New York gewann sie ihr erstes großes Weltranglistenturnier. Zuvor war diese Ausnahmesportlerin Schwimmerin, holte von 1984 bis 92 acht Mal olympisches Gold, dazu etliche Silber- und Bronzemedaillen. Nach Barcelona wollte sie eigentlich ihre sportliche Karriere beenden.

Leistungssport hätte sich nicht mit ihrem Beruf verbinden lassen. Sie wollte auf dem Höhepunkt ihrer Karriere aufhören, schließlich hatte sie zuletzt jedesmal, wenn sie startete, eine Medaille bekommen. Doch nach kurzer Zeit wurde sie wieder unruhig, probierte Wildwasser-Canuing, Selbstverteidigung, fand ihren zweiten Traumsport im Tennis. Das große Chemiewerk in Leverkusen, ihr Arbeitgeber, unterstützt ihre Sportkarriere vor allem im Hinblick auf die Sommerspiele in Athen, für die sie ihren ganzen Jahresurlaub nimmt.

Als Zweijährige verlor sie ihre Beine bei einem Unfall. „Ob durch ein Auto- oder Zugunfall, oder ob mir ein Hai begegnet wäre, ist mir egal!“ Britta Siegers klingt energisch. Nein, an den Unfall selbst habe sie keine Erinnerungen. Die Frage, wer den Unfall verschuldet hat, nennt sie „nicht zielführend“. Der Verlust der Beine sei endgültig. „Es liegt an mir, mir meine Mobilität zu erhalten. Der Sport ist mein Ventil und eben auch mein Motor, trotz meiner Prothesen zu laufen.“ Tatsächlich gibt es wenige, die auf zwei Oberschenkelprothesen ohne Krücken laufen können. Britta Siegers kann es. Das verdankt sie sicherlich auch ihren Eltern. Diese brachten ihr ein zweites Mal mühsam das Laufen bei. Und bei diesem langen Ringen um Selbständigkeit brachten sie ihr noch etwas anderes bei: die Faszination, angebliche Grenzen zu überschreiten.

Die Sportbegeisterung der Eltern übertrug sich auf die Tochter. Sie lernte Skifahren, Reiten und Schwimmen. Beim Skifahren entwickelte sie einen überdurchschnittlichen Gleichgewichtssinn. Das Schwimmen vermittelte ihr das wohltuende Gefühl, vom Wasser getragen zu werden. Und beim Schwimmen konnte sie Geschwindigkeiten erreichen. Bald maß sie sich mit Schwimmern, die „zwei Motörchen mehr haben“, ihre Beine. Beim Reiten ermöglicht ihr das Pferd Wege, die ihr ansonsten trotz Prothesen unmöglich sind, weite Strecken durch unwegsames Gelände. Als sie für einen Hersteller einmal wasserunempfindliche Prothesen ausprobieren sollte, galoppierte sie am Strand durchs Wasser. Mensch, Tier und Maschine haben den Test bestanden. Britta Siegers‘ Leben erscheint als ein ständiges Ringen um das Mögliche. Da bemerkt sie: „Irgendwann muss dem Körper auch ein wenig Ruhe gegönnt werden“, um dann gleich zu ergänzen, „sonst geht die Leistung runter“.

Tagsüber sitzt Britta Siegers am Schreibtisch. Ende letzten Jahres hat die promovierte Chemikerin den Abschluss ihres Zweitberufes gemacht. Zur Technik kam noch Jura, nun ist sie Patentanwältin. Aus ihrem Arbeitszimmer im 16. Stockwerk schaut sie auf den Rhein, auf qualmende Schlote und riesige Industrieanlagen. Ihre Vorgesetzten haben viel Verständnis für ihre Sportbegeisterung. Und ihre Freunde auch. Manchmal sieht sie diese wochenlang nicht, kann nur telefonieren oder mailen. Dann, wenn sie mit ihrem Tennisschläger mal wieder die Welt bereist. In diesem Jahr war sie schon 15 mal unterwegs. Ihre Eltern übernehmen dann im Wechsel den Transfer zum Flughafen. Dafür ist sie ihnen sehr dankbar, sagt Britta Siegers.

Gibt es außer Leistungssport und Arbeit noch etwas anderes in ihrem Leben? Was für eine Frage, natürlich! Seltsam wäre es, wenn es einmal nichts gäbe. Britta Siegers taucht gern. Das letzte Weihnachtsfest verbrachte sie auf dem Meer vor Thailand. Und vor ein paar Jahren machte sie einen Tauch- und Segeltörn durch die Südsee. Für ihre Beine wurden Strümpfe aus Neopren genäht, damit sie auch durch Meerwasser waten konnte. Natürlich war sie nicht die Fachfrau, Ladung an Bord zu nehmen. Aber ansonsten erledigte sie auf dem Schiff die anfallenden Arbeiten wie die anderen Crewmitglieder auch. An den weißen Palmenstränden mit dem türkisfarbenen Wasser genoss sie dort das Paradies auf Erden. Beim Tauchen erlebte sie sich als Gast in einer anderen Welt. Und – unter Wasser ist man schwerelos.

„Es liegt an mir, mir meine Mobilität zu erhalten. Der Sport ist mein Motor“

Überhaupt: Reisen ist ihr Hobby. Nicht nur zu sportlichen Anlässen. Mit ihren Eltern besuchte sie Vietnam und Kambodscha, nicht etwa in einer Reisegruppe sondern als Individualreisende. Nicht nur die typischen Touristenattraktionen hakte sie ab. Natürlich ritt auch sie auf einem Elefanten. Aber sie sah dort auch durch Agent Orange verstümmelte Menschen. Anders als Britta Siegers meistern diese Menschen auf ihre Weise ihr Leben. Die schwierigste Reise führte sie als Vorstandsvorsitzende der Bezirksgruppe Köln/Leverkusen der Deutschen Olympischen Gesellschaft nach Israel. So viel Misstrauen sei ihr in ihrem ganzen Leben nicht begegnet. Unausgesprochenes, nur fühlbares Misstrauen. Sie nahm an einem Halbmarathon teil, einem Friedenslauf am Toten Meer. Mit ihrem Handbike durchquerte sie die bizarre Wüstenlandschaft am tiefsten Punkt der Erde. Natürlich stand sie danach auf dem Siegertreppchen, als einzige Deutsche, als einzige Frau. Ob das Misstrauen, das sie spürte, etwas damit zu tun haben könnte, dass eine Deutsche Israelis den Frieden bringen will? Britta Siegers glaubt an die olympische Idee. Wenn Menschen ihre Kräfte messen und nur die Sportgeräte und die eigene Physis die Waffen sind, können sie beispielhaft im Kleinen zeigen, dass Frieden möglich ist. Im olympischen Dorf erlebte sie ein Miteinander verschiedener Kulturen und Völker.

Auf ihrer Reise durch Israel sah sie die vielen Soldaten, den Stacheldraht. Und doch kann sie die Israelis verstehen. „Was die aus diesem kargen Lang gemacht haben, die Wüste bewässert, fruchtbar gemacht. Das schien unmöglich. Es gelang, weil sie in die Zukunft schauen.“ Auch ein Lance Armstrong der gerade seine sechste Tour der Qualen gewann, beeindruckt sie. „Der Kampf mit dem Krebs, der Kampf um Leben und Tod hat ihn geprägt.“

Und Menschen, die nichts leisten? Menschen, die schwerstbehindert, an Schläuche und Kabel angeschlossen, nur liegen können? Sind solche Menschen weniger wert? Nein, diese leben in anderen Welten, sagt Britta Siegers. Es ist schwer, sich diese Welten vorzustellen. Um so weniger sollten wir, die wir sie nicht kennen, uns anmaßen, sie zu bewerten. Dazu beschreibt sie einen Augenblick, der sie sehr beeindruckt hat. Bei den Paralympics in Barcelona beobachtete sie einen Sprinter, der weder sehen noch hören noch sprechen konnte. Er saß in der Sonne und lächelte. Soll man so einem Menschen, der sichtbar genießen kann, den Wert seines Lebens absprechen? Und wenn sie selbst nicht mehr so viel leisten kann? „Ich mach` mir ein Album von all den tollen Erlebnissen. Später kann ich mir das dann mal in Ruhe anschauen. Vielleicht habe ich aber auch die Möglichkeit, meine Erfahrungen an andere weiterzugeben.“