Patent für Popelkram

Weil nach der Einführung einer neuen EU-Richtlinie Patentstreitigkeiten in großer Zahl drohen,hat die Stadt München die Umstellung ihres Computernetzes auf das Linux-System verschoben

AUS MÜNCHENJÖRG SCHALLENBERG

Es ist, leider, nicht bekannt, ob sich Steve Ballmer, oberster Chef des Software-Giganten Microsoft, letztes Jahr im Mai den Rücken verrenkt hat – beim Versuch, sich einmal kräftig in den Hintern zu beißen. Da hatte der von allen Seiten heftig umworbene Konzern in den Neunzigerjahren beschlossen, seine Europazentrale in einen Vorort von München zu verlegen – und nun dankte es ihm die bayerische Landeshauptstadt, indem sie verkündete, die rund 13.000 Computer der Stadtverwaltung von Microsoft auf das offene Betriebssystem Linux umzustellen.

Der Testfall für Linux

Nicht, dass der finanzielle Verlust in Höhe von 30 Millionen Euro angesichts eines Umsatzes von sieben Milliarden Euro allein im ersten Vierteljahr 2003 besonders schmerzlich gewesen wäre, doch die weltweite Signalwirkung war kaum zu unterschätzen: Die Entscheidung der Stadt München galt als wichtiger Testfall für die Nutzbarkeit von Linux in einem komplexen IT-System.

Kein Wunder also, dass Richard Seibt, der Vorstandsvorsitzende der SuSE-Linux AG in Nürnberg, damals jubelte: „Was in der großen Weltpolitik der Fall der Berliner Mauer war, das wird dieses Votum in unserer Branche sein.“ Die Mauer besteht in diesem Fall im Quasi-Monopol von Microsoft auf PC-Betriebssysteme, die der Mega-Konzern von Bill Gates mit allen erlaubten und nicht erlaubten Mitteln in den vergangenen Jahren zu verteidigen suchte. Doch Seibt hat sich zu früh gefreut. In München wird die Mauer erst in geraumer Zeit fallen – wenn überhaupt.

Am Mittwoch setzte die Stadt die auf Linux zugeschnittene Ausschreibung vorläufig aus: Einem Stadtrat der Grünen war aufgefallen, dass allein die Grundausstattung der Stadtverwaltung nach den Bestimmungen einer neuen EU-Richtlinie 50 verschiedene Patente verletzen könnte. Urplötzlich scheint in München nun das „Computer-Chaos“ auszubrechen, wie die Süddeutsche Zeitung in bester Boulevard-Manier titelt. Dabei besteht die größte Überraschung darin, dass es so lange gedauert hat, bis sich die drohende Gefahr von Brüssel bis nach München herumgesprochen hat. Denn schon im Mai dieses Jahres beschloss der EU-Ministerrat jene Richtlinie zur „Patentierbarkeit computerimplementierter Erfindungen“, die in München nun für heillose Aufregung sorgt. Die Entscheidung der Minister ermöglicht kurz gesagt, auf fast jede beliebige Form von Computer-Software ein Patent anzumelden. Was auf den ersten Blick nicht weiter ungewöhnlich klingt, hätte tatsächlich unüberschaubare Folgen. Denn Software ist im Gegensatz zu anderen Erfindungen „weniger ein gebautes Ding als ein geschriebener Gedanke“, wie der Münchner IT-Experte Henrik Klagges sagt. Dementsprechend ist Software, wenn überhaupt, bislang wie Kunstwerke oder Bücher durch das Urheberrecht geschützt, was eine weitgehend unproblematische Verwendung garantiert.

Die ist auch nötig, denn Computer-Programme entstehen zumeist dadurch, dass bestehende Software zu bestimmten Zwecken um- oder fortgeschrieben wird. Dieses Merkmal trifft wiederum besonders auf Open-Source-Systeme wie Linux zu, die im Gegensatz zu Microsoft-Programmen wie XP nicht wie Staatsgeheimnisse geschützt werden, sondern im Prinzip jedem Nutzer offen stehen.

Gebremster Wettbewerb

Tritt die EU-Richtlinie endgültig in Kraft, droht das ganze System zusammenzubrechen. Denn dann könnten theoretisch selbst simpelste Software-Fitzelchen geschützt werden – bis hin zur Verknüpfung von einer Internet-Seite mit einer anderen oder einfachen Dateiformaten wie jpg-Bildern. In den USA hat eine ähnliche Regelung schon zu Schadensersatzprozessen in dreistelliger Millionenhöhe geführt. Zwar wurden die Klagen in höherer Instanz abgewiesen, doch Computerexperten fürchten, dass sich kleine Firmen derart aufwändige Prozesse oder den Kauf von Lizenzen für Software-Bestandteile nicht leisten können.

Weil damit Innovation und Wettbewerb ausgebremst werden und Software-Giganten wie Microsoft weiter ungehindert Entwicklungstempo und Preise diktieren könnten, regen sich Programmierfreaks über den EU-Ministerrat genauso auf wie der Bundesverband der mittelständischen Wirtschaft. Ihr Zorn ist in der EU auch durchaus angekommen – denn das EU-Parlament hat sich bereits einmal mit überwältigender Mehrheit gegen die breite Einführung von Software-Patenten ausgesprochen und dürfte auch die geplante Richtlinie einkassieren. Dann könnte der possierliche Pinguin, das Markenzeichen von Linux, doch noch Einzug halten ins Münchner Rathaus. Und Steve Ballmer würde sich einmal mehr den Rücken verrenken.