„Ich verzichte nicht leicht auf Berlin“

Boukar Amine

„Ich muss zurück in den Tschad, weil ich müde bin wegen dieser Unsicherheit hier. Ich könnte noch bleiben, wenn ich einen vernünftigen Job hätte, aber ich muss irgendwann einmal anfangen zu leben. Ich bin ja nicht so jung“„Es gibt viele Betriebe, die wissen, dass Ausländer fleißig sind. Das Problem ist nicht so sehr die Hautfarbe, sondern das Kennenlernen. Die Deutschen habe keine Erfahrung mit Afrikanern. Das ist noch neu für sie“

Der heute 50-jährige Politologe kommt aus einem Dorf im Tschad und gehört einer muslimischen Volksgruppe an. Seine Eltern sind Bauern. Wegen des Bürgerkriegs in seinem Land strandete er 1979 als Student in der Ukraine und konnte 15 Jahre lang nicht in den Tschad. Die Recherchen für seine Doktorarbeit führten ihn 1992 nach Frankreich. Auf dem Weg zurück nach Kiew blieb er in Berlin hängen. Er verliebte sich in eine Deutsche, die den kleinen Entwicklungshilfeverein „Al Samar“ gegründet hatte. Seit er in Berlin lebt, versucht er durch Arbeit, egal was, hier Anerkennung zu bekommen. Vergeblich bisher.

INTERVIEW VON WALTRAUD SCHWAB

taz: Herr Amine, Sie leben im Afrikanischen Viertel im Berliner Wedding. Wird ihnen warm ums Herz, wenn sie lesen: Kameruner Straße, Togostraße?

Boukar Amine: Als ich zum ersten Mal hier war und sah, ah hier ist Guinea, ah Senegal da hinten und dort Uganda, da lachte ich: Das ist ja wie daheim.

Aber so richtig richtig zu Hause …

… ist es nicht. Man kann leben. Für den Alltag ist es gut. Es gibt den Park, man legt sich unter einen Baum und hat ein Laisser-faire mit der Natur wie in Afrika.

Wie geht es Afrikanern in Berlin wirklich?

Es ist nicht leicht. Gerade Berlin – so gemischt mit West- und Ostberlin. Und das Problem mit der Arbeitslosigkeit, das ist am schlimmsten. Alle Afrikaner versuchen, einen Laden zu eröffnen, aber das bringt auch nichts.

Sie haben jahrelang versucht, eine Arbeit zu finden?

Versucht, ja. Zuerst habe ich Deutsch gelernt. Seit 1994 arbeite ich, aber einen richtigen Job hatte ich nie. Bis jetzt nicht. In diesen letzten zehn Jahren habe ich nicht ein Jahr am Stück bei einem Betrieb gearbeitet. Mal acht Monate, mal ein halbes Jahr und dann wieder arbeitslos. Ich war bei Zeitarbeitsfirmen. Fünf Euro die Stunde. Meine Erfahrung sagt, es ist schwierig für Afrikaner. Sicher, auch die Deutschen leiden unter der Arbeitslosigkeit.

Ist die dunkle Haut das Hindernis bei der Arbeitssuche?

Ein Hindernis ja, aber es gibt viele Betriebe, die wissen, dass Ausländer fleißig sind. Um Geld zu verdienen, achten die Ausländer nicht auf ihr Diplom. Es gibt viele Akademiker, nicht nur ich, die sagen: Hauptsache Arbeit. Das Problem ist nicht so sehr die Haut, sondern das Kennenlernen. Die Deutschen habe keine Erfahrung mit Afrikanern. Das ist noch neu für sie.

Was muss man tun, um die Afrikaner kennen zu lernen?

Man muss zusammen feiern. Auch im Alltag fehlt die Beziehung. Ich kann 20 Jahre hier leben, ohne die Nachbarn zu kennen. So was ist schwierig für Afrikaner. Für uns ist das langweilig.

Wie kamen Sie nach Berlin?

Ich war in Frankreich. Hab für meine Doktorarbeit recherchiert. Auf dem Rückweg nach Kiew, dort hab ich ja studiert, kam ich nach Berlin. Hier hab ich meinen Pass verloren und bin geblieben. Aber das ist eigentlich kein Grund zu bleiben. Papiere kann man wieder beschaffen. Es war die Zukunftslosigkeit in der Ukraine und die Zukunftslosigkeit im Tschad. Dorthin zurück war immer mein Wunsch, aber die Situation war so, dass politische Gegner noch im Ausland gejagt wurden. Ich gehörte zu einer oppositionellen Partei.

Dann haben Sie sich in Berlin in eine Deutsche verliebt?

Ich habe ihr gesagt, wie meine Situation ist. Und dass ich noch meine Tochter in Kiew habe und nicht hier bleiben kann, dass wir aber vielleicht irgendwann zusammen in Afrika leben können.

Sie haben dann doch geheiratet.

Ja. Eine Lösung für meine Tochter finden wir, dachte ich. Als wir heirateten, brauchte ich ein neues Visum von der deutschen Botschaft im Tschad, um legal in Deutschland einreisen zu können. Deshalb mussten wir 1994 dorthin fliegen. Da war ja immer noch nicht klar, wie die politische Situation ist.

Nach 15 Jahren zum ersten Mal wieder zu Hause. Wie war das?

Das war zu hart. Die saßen da und weinten und ich weinte auch. Keiner hat damit gerechnet, dass ich jemals wieder in den Tschad komme.

Sie kommen eigentlich aus dem Busch. Konnten aber Abitur machen. Gab es in ihrer Familie ein Bildungsbewusstsein?

Überhaupt nicht. Keiner aus meiner Familie hatte die Schule besucht. Mich schickte mein ältester Bruder da hin. Er kam und sagte: Boukar, Mohammed und Usman, das waren wir drei jüngere Brüder, ihr kommt sofort mit zum Dorfältesten. Dort saß der Lehrer im Hof. Vor ihm ein Tisch, ein Heft. Ich wusste gar nicht, was ein Heft ist. Der Lehrer war zum Dorfältesten gekommen und hat gesagt, er möchte eine Schule eröffnen. Noch am gleichen Tag brachte mein Bruder uns zu ihm. Das war 1961.

Ihr Bruder ist viel älter?

Er sollte jetzt so Mitte 70 sein. Wir haben keine Geburtsurkunden. Ältere Bruder sind wie Väter. Die Schule ging aber nur bis zur vierten Klasse. Ab dann musste ich in ein anderes Dorf. Man hat mich zu einem Onkel gebracht.

Sind sie der einzige in Ihrer Familie, der Abitur hat?

Ja, der einzige. Man hat mich wie mit der Angel aus der Familie gezogen und zur Schule geschickt.

Nach dem Abitur waren Sie Lehrer?

Im Süden habe ich zwei Jahre unterrichtet. Französisch und Englisch. Dadurch hat man Anspruch auf einen Studienplatz. Ich wollte nicht studieren. Lieber weiter unterrichten. So dachte ich, kann ich auch meinen Eltern helfen. Aber als der Bürgerkrieg in die Hauptstadt N’Djamena kam, gab es Chaos. Überall. Mein Nachbar, der im Bildungsministerium arbeitete, fragte: Boukar, was machst du? Ich sagte, ich warte, bis sich die Situation reguliert, dann unterrichte ich weiter. Nein, sagt er, vielleicht reguliert sich das nie. So kannst du niemandem helfen. Es sind zwei Studienplätze in Russland frei. Du gehst da hin.

Und wie war es in der Ukraine?

Ein Schock. Ich war zum ersten Mal unter Weißen. Die Sprache konnte ich auch nicht. Am Anfang kriegt man Unterstützung von den Studenten, die dort schon ein paar Jahre waren. Sie helfen beim Einkaufen, beim Kochen. Männer dürfen bei uns zu Hause nicht in die Küche.

War die russische Gesellschaft offen Schwarzen gegenüber?

Nein, das war schlimm.

Trotzdem haben sie sich in eine Ukrainerin verliebt.

Wenn dir die Regierung nicht mal das Geld gibt, damit du alle zwei Jahre nach Hause fliegen kannst, und du jahrelang da draußen bleibst, dann merkst du, du kannst nicht mehr ohne Frau.

Haben sich Türen geöffnet, als sie mit der Ukrainerin verheiratet waren?

Nein. Rassismus in der Sowjetunion, das muss man sagen, gab es. Zu uns hat man immer Affen gesagt. Man wurde auf der Straße beschimpft. Viele Frauen wurden auf der Straße auch geschlagen, angeschrien: Wo hast du dir denn diesen Affen geholt.

Was hat sich nach dem Ende der Sowjetunion verändert?

Das war hart. Das Institut für Politikwissenschaften wurde so umgebaut. Man sollte auch bezahlen. Aber wovon? Das war dann auch ein Grund, warum ich meine Doktorarbeit nicht fertig gemacht habe und in Berlin hängen geblieben bin. In der Ukraine war alles ungewiss und im Tschad auch.

Wie beurteilen Sie die Situation im Tschad heute?

Das ist Diplomatie. Wir sind froh, dass man heute ein bisschen was machen kann im Vergleich zum alten Regime.

Trotzdem wollen Sie zurück?

Ich muss, weil ich müde bin wegen dieser Unsicherheit hier. Wirklich, ich bin ein Mensch, der tanzt, der trommelt, der sich am Leben freuen will. Wenn ich hier mich mal freuen könnte, wenn hier mal jemand zu mir sagen würde, Boukar, hier hast du deine acht, neun Euro Stundenlohn als Reinigungskraft, dann würde ich das machen. Aber das kriege ich auch nicht. Da kann ich auch in meinem Land meine Felder anbauen.

Ihre Tochter lebt bereits in Afrika.

Sie ist von Kiew aus nach Hause gekommen. Vor sechs Wochen. Die Mutter war gestorben. In Kiew, da hat meine Tochter, sie ist 21, ja schon auf der Straße gelebt, mal da übernachtet, dann dort. Sie hat auch nicht richtig die Schule besucht. Sie ist dunkelhäutig und das in Kiew. Schlimm. Ein Junge kann sich vielleicht durchboxen, aber ein Mädchen.

Ist ihre Tochter jetzt glücklich?

Ja. Sie sagte immer, Sprache lernt man vor Ort. Sie wollte weg aus Kiew, irgendwo ankommen, wo man sie respektiert.

Sie ist verheiratet mit einem Ihrer Cousins. Eine Liebesheirat?

Eine arrangierte Ehe. Meine Tochter sagt, er sei sehr nett, aber viel zu groß. Bei uns kann eine Frau alleine nicht leben. Das geht nicht in der muslimischen Gesellschaft.

Auch Ihre Frau will später in Afrika leben?

Ja. Dann sind wir alle zu Hause.Wirklich, ich verliere schon meine ganze Kraft hier in Berlin. Es ist schön, dass es den Verein Al Samar gibt, da habe ich wenigsten ab und zu Freude.

Al Samar ist der kleine Verein Ihrer Frau, den es schon gab, bevor sie sich trafen. Sie machen Veranstaltungen und bauen vom Erlös Brunnen und Schulen in Afrika.

Wir feiern, tanzen, trommeln. Vom Erlös finanzieren wir so was. Seit drei Jahren bauen wir auch eine Krankenstation auf. Al Samar ist eine kleine Geschichte, die aus der Erfahrung geboren ist, dass man da drüben mit ganz wenig viel machen kann. In N’Djamena, der Hauptstadt, spricht man auch über das, was wir aufgebaut haben.

Die meisten Projekte werden in Ihrem Heimatdorf verwirklicht.

Eigentlich ist es unser Plan, das zu erweitern, aber das Geld dafür fehlt.

Ihr Dorf ist muslimisch. Gibt es dort Probleme mit Beschneidung?

Beschneidung nicht. Polygamie ja. Aber viele Männer sagen, nee, das will ich nicht mehr. Ich will lieber mit einer und dann habe ich meine Ruhe.

Und Sie?

Im Moment kommt das für mich überhaupt nicht in Frage. Von meinen sieben Brüdern hat nur mein jüngerer Bruder Usman zwei Frauen.

Sie sind mit vielen Leuten im Dorf verwandt?

Mit vielen. Aber durch die Brunnen, die wir gebaut haben, und die Krankenstation ziehen immer mehr Leute da hin. Bald müssen wir überlegen, wie man eine richtige Stadt baut, mit Straßen, ohne Müllproblemen und so.

Sie wollen nun Berlin verlassen, um sich diesen Fragen im Tschad zu widmen?

Ich verzichte nicht leicht auf Berlin; ich bin gern hier; hier passiert so viel. Nur die Hoffnung ist nicht mehr. Ich könnte noch bleiben, wenn ich einen vernünftigen Job hätte, dann könnte Al Samar weitergehen, dann könnten wir Brunnen oder Schulen anderswo bauen, aber ich muss auch irgendwann einmal anfangen zu leben. Ich bin ja nicht so jung.

Sie möchten einmal ankommen in Berlin?

Ankommen ja. Wenn mir jemand eine Chance gäbe. Sagen Sie mir, wo eine Stelle ist, ich kann schon morgen anfangen. Mit meinen Sprachkenntnissen, Französisch, Russisch, Deutsch. Mein altes Englisch, das kann ich auch wieder wach machen. Mit vier Sprachen kann ich was anfangen in einem Betrieb. Ich kann auch im Lager arbeiten. Wenn ich mal acht, neun Euro kriegen würde. Ich arbeite mich schnell ein. Egal in was, handwerklich, kaufmännisch. Einmal möchte ich erleben, dass jemand sagt: Komm Boukar, das kannst du machen. Ich möchte einmal fühlen, wie man hier fühlt.