Störfaktoren mit Vergangenheit

Zum ersten Mal gestalten Verkäufer des Hamburger Straßenmagazins Hinz & Kunzt die komplette Zeitung selbst. Als Besonderheit liegt der Ausgabe die CD „Heimkinder“ mit Erinnerungen mehrerer Verkäufer an ihre Kindheit bei

„Ich fragte mich: ‚Wie haben die es geschafft, so normal zu werden?‘“

von Marc-André Rüssau

Dagmar Berghoff kann Katastrophen routiniert vermelden. Als Tagesschausprecherin war das ihr tägliches Brot. Allerdings hätte es die Katastrophe, die sie zusammen mit dem 32-jährigen Hinz & Kunzt-Verkäufer Björn auf der CD „Heimkinder“ beschreibt, die der aktuellen Ausgabe des Straßenmagazins beiliegt, nie in die Hauptnachrichten geschafft.

Denn es ist Björns Geschichte seiner Kindheit. Mit einer alkohol- und medikamentenabhängigen Mutter, deren zweiter Ehemann den sechsjährigen Björn sexuell missbraucht. Drei Jahre lang, ohne dass irgendjemand eingreift. Björn wird immer aggressiver, mit neun randaliert er in einem Supermarkt und versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Er kommt in die Kinderpsychiatrie, die schickt ihn bald wieder nach Hause.

„Obwohl die Verletzungen, die ich im Analbereich hatte, jedem Arzt hätten klar machen müssen, was zuhause los ist“, sagt Björn. Zwar trennt sich die Mutter von ihrem Mann. „Aus Angst, dass die Nachbarn von der Sache was mitkriegen“, vermutet er. Trotzdem wird seine Kindheit nicht angenehmer: Im Suff schlägt ihn die Mutter immer wieder. Mit 13 reißt Björn von zuhause aus und kommt später ins Heim: „Das war die Erlösung für mich.“

Es ist das erste Mal, dass Hinz & Kunzt eine CD beiliegt. Nicht die einzige Besonderheit der aktuellen Ausgabe. Denn die Wohnungslosen haben die komplette Zeitung selbst geschrieben. „Ich kenne die ‚Heimkinder‘ als Kollegen“, sagt Chefredakteurin Birgit Müller, „als ich ihre Erzählungen hörte, fragte ich mich: Wie haben die es geschafft, so normal zu werden, wie sie sind?“

Für Björn war die Aufnahme der CD eine große Belastung: „Da wurden viel aufgewühlt, das ich am liebsten vergessen würde.“ Vor ein paar Jahren noch hätte er das nicht durchgehalten: „Da wäre ich wohl wieder drücken gegangen.“ Trotzdem hatte Björn keine Angst davor, dass bald ganz Hamburg seine Geschichte kennt: Das Schlimmste, was er sich vorstellen könne, wäre Mitleid. „Ich will, dass die Leute mich nicht nur als Hinz & Kunzt-Verkäufer wahrnehmen, sondern als jemanden, der es geschafft hat, eine solche Kindheit zu überstehen.“

Aber die Wohnungslosen packen in ihrer ersten eigenen Zeitung auch weniger belastende Themen an. Ein großer Teil der Ausgabe ist der Kunst gewidmet. Mit den Werken dreier Verkäufer, für die in diesem Monat eine Ausstellung in den Redaktionsräumen gemacht wird. Auch Glossen fanden ihren Platz: Wenn sie sich mit dem Begriff „Sozialschmarotzer“ auseinander setzen, der ihnen auf der Straße oft entgegengeschleudert wird. Warum sagt sowas eigentlich niemand zu prominenten Steuerflüchtlingen?

So vermittelt das aktuelle Heft die Sicht von Menschen, die es sonst häufig nur als Shopping-Störfaktor in Fußgängerzonen in die Medien schafft. Da ist es ganz passend, dass man Björns Geschichte nicht am Kiosk, sondern bei ihm und seinen Kollegen auf der Straße kaufen kann.