Schwarze Schafe im Salon

Überlieferung und Fantasie, Original und Abstraktion: Der TheaterSalon erinnert mit „Der unbekannte BruderGrimm – ein Gesellschaftsspiel“ an Ferdinand, den jüngeren und erfolgloseren Bruder der berühmten Grimms

„Zwei Körper sind wir und zwei Geister auch, doch führen wir ein Leben“, so beschreibt Wilhelm Grimm sein Verhältnis zu seinem Bruder Jacob. Und tatsächlich – Jacob lebt nicht nur bis zu seinem Tod in der Familie seines Bruders, sondern beide arbeiten zeit ihres Lebens gemeinsam, als Märchensammler, als Germanisten in Göttingen, an der Preußischen Akademie der Wissenschaften. „Ich bin die Folie, vor der des Bruders Glanz erstrahlt“, auch dieser Satz stammt von Wilhelm Grimm.

Dass es neben den beiden unzertrennlichen Brüdern noch einen jüngeren dritten gab, der auch geschrieben hat, das ist in Vergessenheit geraten. Ferdinand Grimm lebte von der Unterstützung seiner berühmten Brüder – sie verschaffen ihm eine Stelle als Korrektor bei ihrem Berliner Verleger Reimer, und sie schicken ihm Geld, als er diese Stelle verliert. Auch er ist begabt, aber im Gegensatz zu seinen Brüdern steht er sich selbst im Weg, und es gelingt ihm nicht, seine Begabung fruchtbar zu machen. Mit dem Stück „Der unbekannte Bruder Grimm – ein Gesellschaftsspiel“ von Hartmut Mechtel in der Regie von Ania Michaelis geht der TheaterSalon jetzt den Spuren nach, die der vergessene dritte Bruder in Briefen, Texten, Überlieferungen und in der Fantasie hinterlassen hat.

Ein Salonabend im Haus der Brüder Grimm. Weil beide zusammen mit fünf anderen Göttinger Professoren gegen die Aufhebung der hannoverschen Verfassung durch den König protestierten, haben sie ihre Stellen an der Universität verloren; Jacob ist zudem aus Göttingen verbannt worden. Jetzt versucht man, in einer fröhlichen Runde mit Wilhelms Frau Dortchen und den Dichterinnen Bettina von Arnim und Annette von Droste-Hülshoff in Gesprächen und Gesellschaftsspielen Heiterkeit darzustellen.

Aber spätestens nachdem der unbekannte Bruder Ferdinand überraschend in die Gesellschaft geplatzt ist, wird deutlich, dass trotz der Blinde-Kuh-Spiele und der Konversation über Märchen als national einigende Poesie nichts mehr normal ist an diesem Abend: Als Ferdinand eine böse Erzählung vorliest, in der sich einige der Anwesenden wiedererkennen müssen, eskaliert der unausgesprochene Konflikt zwischen den berühmten Grimms und ihrem erfolglosen Bruder. Das Stück bewegt sich auf der Grenze zwischen historischer Wahrheit und theatralischer Fiktion. In dieser Konstellation ist die Gesellschaft niemals in Göttingen zusammengekommen, aber sie hätte können.

Der Versuch, nach dem Rauswurf die Balance wiederzufinden, Dortchens Sorge um die Kinder, die Brüder, die sich in Pläne zu einem neuen Wörterbuch flüchten, das die geschichtliche Entwicklung der deutschen Sprache nachzeichnen soll – all das ist plausibel und zum Teil in Briefen belegt. Die Inszenierung von Ania Michaelis spitzt diese Geschichte zu einer Parabel zu: Ferdinand weiß aus Erfahrung, dass die Sorgen seiner Brüder im Vergleich zu seinen eigenen klein sind. Die Wörterbuchpläne deuten schon an, dass die beiden an der Herausforderung nicht zugrunde gehen werden.

In der Konfrontation von Wilhelm und Jacob auf der einen und Ferdinand auf der anderen Seite verhandelt das Stück deshalb ganz grundsätzliche Fragen nach der Möglichkeit von Glück und den Konsequenzen von Entscheidungen. Ebenso wie die sparsam eingerichtete Bühne von Stefan Grebe gleichsam als Abstraktion eines bürgerlichen Saloninterieurs aus dem 19. Jahrhundert funktioniert, sind die Figuren weniger Darstellungen historischer Personen als vielmehr Abstraktionen – auch wenn das Stück stark mit Originalzitaten aus Briefen und literarischen Texten arbeitet. Man erfährt an diesem Abend in der Villa Elisabeth also nicht unbedingt, wer der unbekannte Bruder Grimm gewesen ist. Aber man erfährt viel darüber, wer er hätte sein können. ANNE KRAUME

21.–24. 7., jeweils 21 Uhr, Villa Elisabeth, Invalidenstr. 3, Mitte