Böse Welt aus der Steckdose

Als wünschenswert gilt der Umgang mit dem Internet schon für die Kleinsten. Doch gerade sie werden allzu leicht Beute von Perversen – ohne dass Eltern und Lehrer dies auch nur ahnen. Davor warnt die Initiative NetKids

aus Osterholz-ScharmbeckEVA RHODE

„Keiner lässt sein Kind nachts nackt in einem Park zurück, wo Pädophile ihr Unwesen treiben“, sagt die Journalistin Beate Schöning. Die 36-Jährige scheut keine krassen Vergleiche, wenn sie schildert, was ahnungslose Kinder im Internet erleben können – von Beschimpfungen bis hin zur Aufforderung zur Prostitution.

Um die kleinen User vor sexuellen Übergriffen im Netz besser zu schützen, hat sie NetKids (www.kindersindtabu.de) gegründet. Der Verein mit Sitz in Osterholz-Scharmbeck (Landkreis Osterholz) klärt Eltern und Lehrer darüber auf, dass unzählige pädophile Männer und Frauen die Anonymität vermeintlich harmloser Chatrooms für Teenies und Kinder systematisch nutzen, um Kontakte aufzubauen – und sich aufzugeilen. „Die Kinder schweigen. Wenn, dann sprechen sie darüber mit Gleichaltrigen“, weiß Schöning durch Befragungen, die sie an Schulen gemacht hat.

Erigierte Penisse

Worüber die Kinder schweigen – das hat Schöning in Kleinarbeit selbst im Netz recherchiert. Anfangs loggte sie sich nur aus journalistischem Interesse ins Netz. Als ihr von dort plötzlich Fotos mit erigierten Penissen und eindeutige Aufnahmen von nackten Kindern auf ihren Bildschirm poppten, war sie geschockt. „Es war wie in die Hölle gestoßen zu werden“, blickt sie auf ihre ersten Erfahrungen zurück. Ständig werde die Grenze zur Kinderpornografie überschritten.

„Da draußen sind Leute, die sich systematisch in das Vertrauen der Kinder einschleichen und es dann missbrauchen.“ Kleinere Kinder tappten – neugierig und völlig ungewarnt – in deren Fallen und erlebten Schockierendes. Teenager dagegen probierten sich eher mal aus, indem sie auf schlüpfrige Mails – angebahnt in Chatrooms, aber als diskretes Zwiegespräch außerhalb fortgesetzt – frech reagierten. Doch würden auch Ältere selten durchschauen, „dass da draußen gefährliche Leute auf der Lauer liegen, denen es nicht um harmlosen Chat oder Spaß geht.“

Verabredung an Silvester

Worum es geht – das führt Schöning Eltern, Interessenverbänden und KinderschützerInnen regelmäßig vor. Die reagieren regelmäßig betroffen – wenn Schöning etwa vom Mailfoto mit entblößtem Mädchenunterleib berichtet, das sie als vermeintliche Elfjährige erhielt. „Die ist fünf und kann das, da kannst du das mit elf doch wohl auch!“, hatte der anonyme Absender sein perverses Interesse unverhohlen ausgesprochen.

Schöning selbst hat solche Männer schon hochgehen lassen. Als vermeintlich 14-jährige Chatterin hatte sie sich für eine Silvesternacht auf dem Bahnhof in Oldenburg (Niedersachsen) verabredet – genau das also getan, worauf diese Leute hinarbeiten. Angeblich hatte sie zu Hause „sturmfreie Bude“. In Wahrheit stand sie dort mit der Polizei, die in der Tasche des angeblichen Chat-Freundes kinderpornografisches Material fand. Gegen den 27-jährigen Krefelder wurde ein Strafverfahren eingeleitet.

„Bist du alleine?“

Bis heute chattet die Journalistin mit solchen Menschen. Es ist zu leicht: Keine zehn Minuten, nachdem sie beispielsweise bei Yahoo-Teenchat im Chatroom auftaucht, hat sie an einem normalen Arbeitstag morgens um elf Uhr schon vier eindeutige Mails auf dem Bildschirm.

„Wie alt bist du? Bist du alleine? Hast du dich schon einmal selbst befriedigt?“ ist nur der harmlose Einstieg. Ebenso die Frage, ob sie ein Foto von sich hat – oder eine Webcam. Weil sie als vermeintlicher Teenie angibt, „darf nicht, meine Eltern“, ist der Chat für manchen, der Bildmaterial als Wichsvorlage sucht, dann schnell vorbei. Aber Schöning weiß: Viele Mädchen und Jungen sind ungewarnt. Sogar ihre Handy-Nummern geben sie an die „Netz-Bekanntschaften“ heraus.

Nur ein Zettel blieb

Schon haben solche Bekanntschaften erste schreckliche Folgen. Zuletzt wurde im Dezember 2002 eine 12-jährige Braunschweigerin von einem Mit-Chatter vergewaltigt. Im Januar konnte eine Nachbarin den Kontakt zwischen zwei Mädchen und einem eindeutig interessierten Familienvater vereiteln. „In den USA wurden Mädchen schon ermordet“, warnt Beate Schöning. „Wir sind hier immer ein paar Jahre hinterher.“ Aber auch in deutschen Beratungsstellen nehmen Anfragen zu, wie sie auch Beate Schöning erhält: Eine Tochter hatte ihrer Mutter nur einen Zettel hinterlassen. Sie sei zu einem „Freund nach Rostock“ gefahren. Die Mutter hatte von diesem Mann noch nie im Leben gehört. Sie wusste nicht einmal, wo mit der Suche anfangen.

„Es gibt Situationen, da fühle ich mich selbst auch überfordert“, sagt Schöning. In Deutschland wird sie mittlerweile als Spezialistin gehandelt. Ab September ist ihr Terminkalender wieder voll: Vor Schulen, vor Erziehungsberatern und Psychologen wird sie sprechen – und aufklären über die Gefahren, denen sich niemand richtig stelle. „Kaum jemand kümmert sich um dieses Thema“, sagt sie. Seit sie im Mai vor dem Deutschen Städtetag gesprochen hat, rollt eine Welle von Anfragen. Dabei müssten Eltern und Lehrer begreifen: „Sobald der Stecker in der Dose steckt, haben Kinder Umgang mit Menschen, den die Eltern im normalen Leben niemals gestatten würden.“

Zutiefst verstört

Auf die Polizei können Eltern nach Schönings Erfahrung erst rechnen, wenn bereits Schlimmes geschehen ist. „Für Prävention haben die kaum Zeit.“ Auch bei den Beratungsstellen für Opfer sexuellen Missbrauchs kennen sich wenige mit dem Medium Internet aus. „Und den meisten drohen jetzt Kürzungen“, sagt Schöning frustriert. Sie hat beobachtet, dass pornografische Anmache im Netz Kinder zutiefst verstört. Auch kennt sie Mädchen und Jungen, die direkt bedroht worden sind. Im besten Falle haben diese Kinder dann das Internet gemieden. Die Gefahr: „Viele können Realität und Netz kaum auseinander halten.“ Noch weiter reichend aber seien die Schäden, die eine ganze Generation erleide – im Umgang mit skrupellosen Sexualtätern. Und wieder: „Eltern lassen Kinder doch auch nicht auf Parties, von denen sie wissen, dass da Rauschgift kursiert. Warum lassen sie sie dann ohne Schutz und Kontrolle ins Internet?“

Aus Bequemlichkeit?

Auf diese Frage hat Schöning selbst eine provozierende Antwort: „Ich glaube, aus Bequemlichkeit.“ Weil es um sexuellen Missbrauch gehe, schreckten insbesondere Lehrer vor dem Thema zurück. Viele Erwachsene beherrschten den PC dazu deutlich schlechter als der Nachwuchs – und ließen zu, dass ihnen alle Kontrolle und damit auch Verantwortung entgleite. Das Ausmaß der Unwissenheit sei riesig: So sei an vielen Schulen sogar unbekannt, dass Eltern die Schule verklagen können, wenn Kinder im Unterricht Zugriff auf jugendgefährdendes Material haben.

NetKids propagiert deshalb, Kinder unter zwölf Jahren gar nicht ins Internet zu lassen. Informationen seien – meist viel besser sortiert und ausgewählt – auch in Bibliotheken und auf CD-Rom zugänglich. Aber auch bei älteren Kindern müsse gelten: „Eltern müssen das Passwort wissen.“ Alles Vorschläge, die insbesondere bei aufgeklärten Eltern, die sich für modern halten, nicht nur gut ankommen.

Kontrolle = Schutz

„Manche Mütter argumentieren dann mit dem Briefgeheimnis“, berichtet Schöning von Elterngesprächen – an deren Ende sie allerdings meist überzeugt. „Bei einem Brief für mein Kind kenne ich den Absender, wenn nicht, frage ich“, sagt sie. Kontrolle bedeute doch auch Schutz. Gleichgültigkeit oder falsch verstandene Freizügigkeit dagegen sei gefährlich.

Schönings Warnungen werden heute ernst genommen. Nachdem sie im Mai vor dem Ausschuss Frauen und Gleichstellung des deutschen Städtetages sprach, ist man dort aufgerüttelt. „Diese Machenschaften müssen unterbunden werden“, fordert die Ausschussvorsitzende Ulrike Hauffe, zugleich Landesfrauenbeauftragte in Bremen. Wünschenswert sei, den Schutz vor Kindern bei der geplanten Neufassung des Sexualstrafrechts zu berücksichtigen.