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: Netz der Erinnerung: Andrea Steingart führt durch Berlin

Seitdem Pierre Nora vor zwanzig Jahren sein monumentales Werk über die französischen „Lieux de mémoire“ veröffentlicht hat, ist immer wieder die Rede von Erinnerungsorten. Spätestens seitdem Hagen Schulze und Etienne François das Projekt 2001 mit ihren Bänden über deutsche Erinnerungsorte weitergeführt haben, gehört das Konzept auch hierzulande fest zur Methodik der Geschichtsschreibung: Erinnerungsorte können tatsächliche Orte oder Plätze sein, müssen es aber nicht. Damit ein Ort jedoch zum Erinnerungsort wird, ist vor allem wichtig, dass er einen symbolischen Charakter bekommt.

Mit ihrem Buch „Schauplätze Berliner Geschichte“ versucht Andrea Steingart nun so etwas wie ein Inventar Berliner Erinnerungsorte zu erstellen – auch wenn sie es nicht ausdrücklich so nennt. In fünf chronologisch gegliederten Kapiteln – von der Kaiserzeit über die Jahre unter den Nationalsozialisten und diejenigen der Teilung der Stadt bis hin zum wiedervereinigten Berlin – wird versucht, die Erinnerung an bestimmten Orten in der Stadt lokalisierbar zu machen.

In einem Vorwort, das den knappen Texten vorangestellt ist, betont Klaus Hartung, der Hauptstadt-Reporter der Zeit, die besondere Eignung Berlins für ein solches Projekt: In keiner anderen deutschen Stadt gebe es eine so unmittelbare Präsenz der Geschichte wie in diesem Berlin, in dem Einschusslöcher an Fassaden ebenso wie Mauerreste oder innerstädtische Brachlandschaften von vergangenen – und nur sehr selten friedlichen – Zeiten zeugen.

Nun ist das keine neue Erkenntnis. Die Art und Weise aber, wie Andrea Steingart und eine Hand voll prominenter Berliner ihre zum Teil sehr persönlichen Erinnerungsorte vorstellen, hat zwar, wenn schon nichts Originelles, dann zumindest etwas sehr Eindringliches. Ausgehend von einem einzelnen Ort wird immer wieder ein kleines Detail aus der Geschichte der Stadt erzählt; ausgehend von der Vielzahl aller dieser Orte beginnt man als Leser nach und nach, den Text zu entziffern, der weniger diesem einen schmalen Bändchen über Berlin zugrunde liegt als vielmehr der ganzen Stadt selbst.

Der Friedhof der Märzgefallenen von 1848, der Landwehrkanal an der Stelle, an der Rosa Luxemburg starb: Oft hat die Erinnerung an den zitierten Orten schon einen institutionalisierten und kanalisierten Charakter, oft gibt es Mahnmäler, Gedenksteine und Hinweisschilder. In diesen Fällen bringen die Texte von Andrea Steingart und ihren Autoren nichts wirklich Neues – aber sie rekapitulieren und verbinden so die unterschiedlichen Orte miteinander zu einer Art Netz, das sie über die gesamte Stadt legen und das sich von Walther Rathenaus Grunewald bis ins Pankower Getto der SED-Spitze zieht.

Manchmal, selten, werden aber auch ganz neue Orte erschlossen. Die sind dann oft im Stadtbild kaum wahrnehmbar, noch nicht etikettiert und katalogisiert: der türkische Gemüsegarten auf dem ehemaligen Mauerstreifen in Kreuzberg, der Gutspark Neu-Kladow, von dem aus die Legion Condor in den Dreißigerjahren in den spanischen Bürgerkrieg startete. An diesen Orten scheint dann eine ganz neue Stadt auf, eine, die ihre Geschichten und ihre Geschichte zwar nicht verbirgt, die sie aber auch nicht laut jedem erzählt, der sich ihr nähert. An diesen Stellen muss man vielleicht ein bisschen genauer hinhören – aber wenn man es tut, dann bekommt man umso spannendere Geschichten erzählt.

Erinnerungsorte sind Orte oder Symbole, an denen sich Geschichten festmachen lassen. Berlin, so zeigt dieses Buch, ist voll von solchen Orten.

ANNE KRAUME

Andrea Steingart: „Schauplätze Berliner Geschichte“. Mit einem Vorwort von Klaus Hartung. Nicolai, Berlin 2004