steffen grimberg
: Entfesselt Springer!

„Welt“-Chefredakteur Roger Köppel druckt und kommentiert den EU-Verfassungsentwurf – und schrammt dabei haarscharf an einem Verstoß gegen den Springer-Kodex vorbei.

Wenn sich die Bundesregierung oder andere Instanzen über Kampagnenjournalismus beklagen, meinte das meistens: Springers Bild. Denkste, dachte sich da Springers Welt, sagte sich los vom Kohl’schen Erbe und legte unter der Regie ihres frisch gebackenen Chefredaktors Roger Köppel nach: Der räumte gestern das Blatt frei und druckte unter dem Titel „Entfesselte Bürokratie“ den (fast) kompletten Text des EU-Verfassungsentwurfes nebst Leitartikel. Klare Botschaft: So nicht!

Der Verfassungs-Abdruck „im Wortlaut“, heißt es, „ist kein Witz, kein Genom-Code, keine publizistische Inszenierung. Es geht darum, was Geist und Gehalt jenes Konstrukts ausmacht, an dem seit über 50 Jahren eine Reihe von Staatsmännern in schwer zugänglichen Kabinetten hantiert.“ Das Fazit: „Mit liberalem Denken hat das nichts zu tun. (…) Es kann nicht sein, dass ausschließlich Politiker über Vorgänge entscheiden, an deren Zu-Standekommen sie selbst beteiligt waren.“ Nun mag man einwenden, dass auch im Deutschen Bundestag Politiker über die von ihresgleichen eingebrachten Gesetze entscheiden – und sich damit trösten, dass Köppel als Schweizer eine direktere Demokratie kennt. Und damit niemand denkt, Köppel wäre wenigstens wertkonservativ, steht da noch der schöne Satz: „Muss der Umweltschutz tatsächlich Gegenstand verfassungsrechtlicher Erwägungen sein?“

Doch darum geht es nicht. Natürlich mangelt es der EU an Transparenz und greifbarer Verantwortlichkeit. Doch was Die Welt gestern atmete, ging haarscharf an einem Verstoß gegen den Springer-Grundsatz vorbei, der Verlag habe in all seinen Gliedern die europäische Einigung zu fördern. Zu eindeutig war da beispielsweise aus der mitgelieferten Chronik die Bewunderung für Großbritannien herauszulesen, das sich stets die Option auf Ausstieg offen hielt. Köppels Heil heißt paradoxerweise Schulterschluss mit den USA: „Es gibt keine EU ohne USA. Das Gerede vom verderblichen Hegemon im Westen spiegelt die tief sitzenden Kastrationsängste einstiger Großmächte.“ Konsequent liberal ist Köppels Ansatz allemal. In einem ganz anderen Sinne pluralistisch-liberal bleibt übrigens auch Die Welt: Die gleiche Ausgabe geißelte in einem anderen Kommentar, der aktuelle Gesetzentwurf zum Großen Lauschangriff gehe nicht weit genug.

Damit sich übrigens niemand Sorgen um die Kampagnenfähigkeit von Bild macht: „Bild versöhnt Eichel mit Gottschalk“, krakeelte das Blatt gestern und brachte ausführlich Nettigkeiten über beide. Wie Eichel-Berater Hans-Peter Schmidt-Deguelle das wohl wieder hingekriegt hat?