der mann ab mitte dreißig duscht kalt von ANDRÉ PARIS
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Zu den aufregendsten Erlebnissen des Mannes ab Mitte dreißig zählt das Kaltduschen. Ja. Kaltduschen ist das Verrückteste, was einem Mann noch widerfährt, wenn sich die Hälfte der Hormone aus dem Körper schleicht, die Menisken und Bandscheiben hin sind und er sich über lautstarke Musik der jungen Österreicherin im zweiten Stock (blöde Faschistensau!) derart ereifert, dass er selbst Stunden später und nach Einnahme von Baldrian keine Nachtruhe (21.30 Uhr) findet.

Hast du heute schon gelebt, spricht es plötzlich aus der Zimmerdecke, was nicht zu bemängeln ist, da sich die Wohnung ansonsten in respektablem Zustand befindet. Och jo, lautet schließlich meine Antwort. Na, na, na!, schimpft die Zimmerdecke, stimmt das denn? Den ganzen Tag am Schreibtisch, das nennst du Leben? Nun gut, gebe ich zu und gerate ins Grübeln, ob man bei sprechenden Zimmerdecken Hinterbliebenenrente beantragen kann. Vielleicht solltest du mal wieder was Verrücktes machen, spricht es wieder von oben. Etwas Verrücktes, frage ich mit aufgerissenen Augen und zitternder Stimme. Jaah, etwas total Verrücktes, etwas ohnegleichen, etwas, das so verrückt und durchgebohnert ist, dass du es noch nicht mal einer sprechenden Zimmerdecke anvertrauen würdest! Juhu, höre ich mich jubeln und springe aus dem Bett ins Bad: Kaltduschen vor Mitternacht, das finde ich ja wirklich total ausgeflippt von mir. Danke für den Tipp, du liebe Zimmerdecke!

Nur einen Tag nachdem die Zimmerdecke erstmalig zu mir sprach, passierte dann etwas richtig Verrücktes: Ich war in der Küche, um Tee zu machen. Gerade betrat ich damit die Treppe zum Arbeitszimmer, als es an der Tür klingelte. Ich stellte den Tee auf die Treppe, ging zur Tür und öffnete. Vor mir: zwei Typen in Anzügen. Gerichtsvollzieher! Noch bevor ich mich gegen die Tür werfen konnte, hielten sie mir ein Buch unter die Nase und behaupteten, dass eine „Johanna“ bei mir wohnen würde. Ich verneinte und beteuerte, dass außer mir niemand da wäre. „Aber nein, Jehova selbst hat uns zu dir geführt, um dir dieses Buch zu geben …!“ „Das Buch der Bücher“, fand der andere. Ich sah mir das Buch an. „Habe ich schon“, sagte ich gelangweilt. „Kenne ich in- und auswendig“, winkte ich wahrheitsgemäß ab.

Die beiden sahen mich an, als wollte ich sie veralbern. „Na gut! Los! Fragt mich was!“, forderte ich sie zum Bibelzitieren heraus. Der Ältere kniff die Augen zusammen. Etwas verunsichert riet ich ihnen: „Wenn ihr nicht mit mir diskutieren wollt: Zwei Stockwerke tiefer wohnt eine, nun ja, Dame, die derlei Zuspruch ohnehin viel dringender …“ Während ich überlegte, welche Hausbewohner ich noch denunzieren könnte, stellte der Alte seinen Fuß in den Türrahmen und wünschte mir schlimme Krankheiten an den Hals. Bevor ich ihm unter einigem Geschrei den Fuß einklemmte, schlug er mir das Buch in die Fresse. Ich torkelte mit Nasenbluten in die Küche. Ich rief nicht die Polizei, sondern machte mir ein eingedrehtes Handtuch mit Eiswürfeln. Später quasselte ich ein wenig mit der Zimmerdecke und ging dann duschen. Kalt.