Ankommen ist Glückssache

Mit dem Zug von der Küste des Indischen Ozeans ins madagassische Hochland. Die Abteile ein Gemischtwarenladen, die Plätze auch auf dem Trittbrett. Der Halt des Zuges bedeutet Geschäfte und Neuigkeiten. Er ist ein wichtiges Ereignis im Dorfleben

VON JÖRN WALPUSKI

Eine Platzreservierung gibt es nicht. Fahrkarten kann man nur vor der Abfahrt ab sechs Uhr morgens im Bahnhof von Manakara kaufen. Die kleine Stadt mit feinem Sandstrand an der madagassischen Ostküste war früher ein verschlafenes Fischerdorf. Die Eisenbahn machte Manakara fast über Nacht zu Madagaskars zweitgrößtem Hafen. Doch Zyklone haben der Kaimauer, der Palmenpromenade und den Hotels jedes Jahr mehr zugesetzt. Der Hafen ist nahezu verwaist und Manakara ein verschlafenes Städtchen, staubig und heiß.

Noch liegt die Stadt ruhig in der Morgenfrische, sind die Geschäfte geschlossen und nur wenige Passanten unterwegs. Das Bild ändert sich schlagartig am Bahnhof der Fianarantsoa-Côte Est-Eisenbahn (FCE). Man sieht dem Gebäude seine französischen Baumeister deutlich an. Durch die Bahnhofsfenster ist der Zug schon zu sehen. Um sechs Uhr öffnet der Schalter, um halb sieben der Bahnsteig. Wer winken, ein Geschäft machen oder einfach nur mal Eisenbahnluft schnuppern will, muss ein „Billet de Quai“ lösen. Auf dem Gleis stehen drei zweiachsige Waggons: erste Klasse, zweite Klasse und Packwagen. Davor die rostig-rote Diesellok. Noch werkeln die Lokführer daran herum, lassen sie warm laufen. Es riecht nach Schmiermitteln, Dieselruß und Eisenbahn.

In Manakara bleibt der Zug recht leer und alle Passagiere finden einen Platz. Im Gepäckabteil hängen drei Fahrräder, und die zweite Klasse ähnelt einem Gemischtwarenladen: neben Passagieren finden sich hier Tiere und landwirtschaftliche Erzeugnisse für die Verwandtschaft oder den Markt in der Stadt. Doch der Zug fährt nicht ab. Nichts Ungewöhnliches – Pünktlichkeit löste eher Verwunderung aus.

Um halb acht geht es dann doch mit einem Ruck los. Zunächst passiert der Zug eine Ebene. Aufgegebene Palmenplantagen säumen den Bahndamm. Neben den Schienen läuft die Route National. Wie immer sind dort viele Fußgänger und einige Radfahrer unterwegs, manche winken, lachen dem Zug zu. Nach neun Kilometern erreicht er Ambila. Drei Polizisten mit einer großen Schreibmaschine springen ab – das mobile Polizeirevier? Der Zug hält kaum. Dafür stoppt er an der Station Sahasinaka umso länger: Körbeweise werden reife Lychees eingeladen. Der Lademeister führt akkurat Buch darüber, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Derweil decken sich die Passagiere mit Proviant ein: Bananen, Brot, frittierte Flusskrebse, Getränke, Hühnerschenkel – alles wird von fliegenden Händlern auf dem Bahnsteig angeboten und durch die Zugfenster verkauft. Auf dem Bahnsteig tummeln sich die Menschen dicht an dicht. Der Halt des Zuges bedeutet Geschäfte, Unterhaltung, Neuigkeiten und ist damit ein wichtiges Ereignis im Dorfleben.

Schließlich geht es doch weiter. Einige Fahrgäste sitzen in der offenen Schiebetür in der Mitte des Erste-Klasse-Waggons und genießen das fantastische Panorama. Insbesondere nordwärts ist die Aussicht prächtig: Wälder ziehen mit fünfundzwanzig Stundenkilometern vorbei, Seen liegen tief unter dem Bahndamm. Ab und an kreuzt ein Trampelpfad die Gleise. Kinder kommen gelaufen und winken, als sei der vorbeifahrende Zug ein einmaliges Phänomen. Dabei hat sich seit 1936 nichts am Fahrplan geändert: Dienstag, Donnerstag und Sonnabend fährt der Zug bergab, Mittwoch, Freitag und Sonntag bergauf. Doch oft ist nicht nur Montag Ruhetag, denn Lokomotiven fallen aus oder die Strecke ist aufgrund des Wetters nicht befahrbar.

Der Zug hält sich die Trasse durch den Urwald selbst frei von Bewuchs, fährt Zweige einfach ab. Für die Reisenden, die ihre Füße aus der offenen Tür baumeln lassen, wird es manchmal etwas dornig. Staubig ist es eh. Derweil kommt die Lokomotive ins Schwitzen, der Weg ins Hochland ist steil. Im nächsten Bahnhof muss Kühlwasser nachgetankt werden. Das frische Wasser wird eimerweise aus dem nächstgelegenen Brunnen herbeigetragen. Auf dem Bahnsteig lässt eine Bäuerin indes ihre dicken Bohnen von der Sonne trocknen und schaut dem bunten Treiben interessiert zu – Abwechslung im eintönigen Alltag.

Auf den meisten Bahnhöfen beginnt der Zug zu rangieren: Ein, zwei zusätzliche Waggons werden angehängt und bis zu einer der nächsten Stationen mitgenommen. Die Passagiere nehmen es gelassen und freuen sich, dass bisher alles so glatt läuft. „Reisezeiten von 14 Stunden sind keine Seltenheit“, berichtet eine erfahrene Mitreisende und beißt genüsslich in eine reife Banane.

In Ampitabe springt der Schaffner mit einem frischen Fisch aus dem ersten Wagen, verschwindet irgendwo hinter dem Zug. Ein Transportgeschäft am Rande. Schon seit geraumer Zeit führt die Strecke durch Bergwälder. Die tropische Hitze des Ozeans liegt weit hinter uns. Pinien und Reisfelder prägen jetzt die Landschaft, es ist angenehm kühl und die zweigeschossigen massiven Lehmziegelhäuser der Betsileo haben die verwitterten und luftigen Holzhäuser der Antaimoro abgelöst.

Der Wagen der zweiten Klasse ist inzwischen so voll, dass die Passagiere auf dem Trittbrett fahren und nur mit Mühe einen Halt finden. Auch die Trittbretter des Packwagens müssen nun für den Personentransport herhalten. Eng wird das vor allem in den 48 Tunnels – ein Wunder, dass es keine Verletzten gibt.

Vohimasina ist der letzte Halt vor dem Ziel. Auf dem erdigen Bahnsteig hat ein sorgfältiger Bahnhofsvorsteher das Logo der FCE mit Rasen gepflanzt. Wir treffen wieder auf eine Nationalstraße, die uns die letzten Kilometer nach Fianarantsoa begleitet.

Unter rhythmischem Gehupe der Diesellok fahren wir schon nach rund neun Stunden fast pünktlich in den Zielbahnhof, einen prächtigen Kolonialbau. Schnell löst sich das Tohuwabohu auf dem Bahnsteig auf. Zurück bleiben ein paar Taxen vor dem Bahnhof und das Schild in der Bahnhofshalle, das zweisprachig die nächste Abfahrt für morgen ankündigt.