In der Literatur verlaufen

Zu viel Belesenheit schadet dem Erzählen: José Manuel Prietos Roman „Liwadija“

VON ANDREAS MERKEL

Es ist der alte Traum vom Stoff, aus dem Romane sind: etwas zu erzählen zu haben. Und was hätte der 1962 in Havanna geborene José Manuel Prieto, der lange Jahre in der ehemaligen UdSSR lebte und heute in Mexiko-Stadt russische Geschichte lehrt, in seinem Roman „Liwadija“ nicht alles zu erzählen gehabt!

Liwadija ist ein altes Seebad auf der Krim, in dem schon Zaren logierten. Hierhin zieht sich der kubanische Schmuggler J., der bei seinen Geschäften in den russischen Grenzgebieten vom Zusammenbruch des ehemaligen Sowjetimperiums profitiert, zurück. J. jagt für einen schwedischen Auftraggeber den Jasius, einen seltenen Schmetterling. Gleichzeitig schreibt und liest er sich durch die Weltliteratur, um W. zu antworten. Denn W., eine russische Prostituierte, in die J. sich in Istanbul verliebt, dort aus dem Bordell befreit und in ihre Heimat zurückgeschmuggelt hat, nur um von ihr bereits im Hafen von Odessa verlassen zu werden – diese W. also meldet sich ebenso plötzlich wie mysteriös-unmotiviert mit sieben Briefen in J.s Leben zurück.

Diese sieben Briefe bilden kapitelweise den Rahmen des Romans, der nun im Wesentlichen davon handelt, wie J. im heruntergekommenen, aber malerischen Liwadija versucht, W. mit schönster Kalligraphie und auf bestem Büttenpapier eine adäquate Antwort zu schreiben. Dieser Antwortbrief soll es mindestens mit Ovid, Flaubert, Kafka oder anderen Klassikern der Weltliteratur aufnehmen können, deren Briefwechsel J. begeistert studiert und bei denen er sich reichlich bedient.

Als Leser merkt man jedoch schnell: Statt sich für den ebenso spannenden wie trivialen Erzählstoff seiner Amour fou zu interessieren, verläuft sich J. lieber in den poetischen Gefilden der Hochliteratur. So muss aus seinem Briefprojekt fast zwangsläufig ein Roman übers Briefeschreiben werden, bei dem bloß fraglich scheint, ob der Autor damit das Herz der Adressatin oder was auch immer zurückerobern wird. Denn wenn J. beispielsweise über die Frau sinniert, der er „ins Netz gegangen“ ist, dann klingt das so: „Aber ein Netz besteht nicht aus den sichtbaren Fäden und nicht aus den Knoten, die die Fäden verbinden und ihm Halt geben, sondern aus den Lücken dazwischen, und ich hatte die ganze Zeit über nur die Knoten ihres erbärmlichen Schauspiels vor Augen gehabt, den falschen Glanz ihrer Augen, den sie zu unterstreichen suchte, indem sie die Lider senkte, wie sie es wohl im Alter von fünfzehn auf dem blumenlosen Deich ihres Dorfs gelernt hatte, diese übertriebenen Gesten, mit denen sie Wut umriß, und die Art, in der sie auf einmal anhielt und sich auf den Schenkel schlug, die Fäuste in die Seite stemmte, diese Art von Gesten; als hätte ich sie immer nur im Gegenlicht gesehen, weshalb ich auch zuließ, daß meine Arme in ihre augenscheinliche Körperlosigkeit tauchten, und als ich sie zurückziehen wollte, waren sie im Netz gefangen, wie die Elefanten, die man in Indien mit Seilen aus feinem Frauenhaar jagt.“

In diesem Zitat (ja, es war nur ein Satz!) steckt das Problem dieses Romans: Präzise, wunderbare Beobachtungen und Spekulationen über die Geliebte als junges Mädchen, die aber bald ausufern und am Ende noch mit Gelehrtheit aufgemotzt werden. Das ständige Bedürfnis, die eigenen Erlebnisse und Gefühle mit unzähligen Zitaten, Querverweisen und Gedankensprüngen zu veredeln und überhöhen („für einen Conrad-Leser konnte der Finnische Meerbusen, die ganze Ostsee so voller Geheimnisse sein wie die Südsee“), hat dabei zunächst einigen Charme. Liegt ihm doch eine sympathische Unsicherheit zugrunde, die Furcht, dass das eigene Leben und Lieben vielleicht gar nicht so großartig und romantisch ist. Die Furcht vor der Banalität.

Aber Prieto lässt dieser literarischen Selbstinszenierung dann doch zu sehr freien Lauf, auf Kosten sowohl seiner Geschichte als auch des Lesers. Der glaubt dem Autor bald gar nichts mehr: eine Prostituierte, ein durchtriebenes Miststück, das ganz wunderbare Liebesbriefe schreibt (von denen man keinen zu lesen bekommt)? Das ganze wirkt, als hätte Prieto hier entweder eine zu langweilige Briefeschreiberin zum gefallenen Mädchen romantisiert oder aber eine zu vulgäre Nutte als empfindsame Seele poetisch hochgetunt.

Am Ende ist das schade, denn hier scheitert jemand, der nicht nur etwas zu erzählen hätte, sondern auch durchaus erzählen kann, an seiner Belesenheit und an seiner Sehnsucht nach der ganz großen Literatur. Und vielleicht auch am eigenen Dünkel, er könnte womöglich den Eindruck eines ungebildeten Lateinamerikaners erwecken, der den Leser im Wartesaal irgendeines gottverlassenen Provinzbahnhofs der Weltliteratur mit seinem Romanprojekt über irgendein Flittchen voll quatscht.

José Manuel Prieto: „Liwadija“. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004, 353 S., 22,90 Euro