Und es gibt ihn doch

Von der Unmöglichkeit, Hilfe in Anspruch zu nehmen, solange man nur lebt, um darüber zu schreiben: Benjamin von Stuckrad-Barre brachte seine Fans im ColumbiaFritz auf den neuesten Stand

VON ANNE KRAUME

Nun ist es ja so, dass Lesungen eigentlich im Ganzen eher öde Rituale sind: Warum man sich abends in seltsam unwirklich anmutende Buchhandlungen setzen soll, um auf Klappstühlen hinter Bücherstapeln gemeinsam mit pensionierten Studienräten einem Menschen zuzuhören, wie er die Highlights aus seinem neuesten Werk vorträgt, das man entweder noch selbst lesen oder aber ohnehin niemals anrühren wird, das ist mit vernünftigen Argumenten kaum erklärbar. Wenn man versucht, weniger vernünftige Argumente ins Feld zu führen, dann landet man bald bei Dingen wie der Aura eines Autors, die man auf diese Weise zu ergründen oder wenigstens zu erleben hofft, oder, etwas tiefer gehängt, immerhin beim Interesse für die Person, die sich hinter einem Buch verbirgt.

Dass die Person von Benjamin von Stuckrad-Barre sich hinter irgendetwas verbergen würde, kann man kaum behaupten – zuallerletzt hinter seinen Büchern. Schon vor Jahren, auf der Höhe seines Ruhms, entgegnete Stuckrad-Barre auf die Frage, warum er mit solcher Begeisterung über sich selbst schreibe: „Entschuldigung, aber über wen denn sonst bitte?“ Jetzt las er im Rahmen seiner Tournee „Come on Baby / Fight My Liar“ aus seinem neuen Buch „Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft Remix 2“, einer Sammlung von kürzeren, nicht nur neuen Texten. Immerhin in keiner Buchhandlung, sondern im ColumbiaFritz. Statt der Lesungs-Studienräte kann man hier Pferdeschwanzmädchen in rosa Kunstlederjacken treffen, und Jungs, die über dem Remix-T-Shirt von der letzten BvSB-Tour kunstvoll verwuschelte Haare in der Stirn tragen. Aber als das Mädchen in der fünften Reihe in ihr Handy haucht: „Ich bin bei einer Lesung. Von Benjamin von Stuckrad-Barre! Ja, ich erzähl dir dann …“, da schwingt mindestens ebenso viel Emphase mit wie sonst bei den Studienräten.

Was sie wohl erzählen wird? Man ist ja wieder sehr informiert über Benjamin von Stuckrad-Barre in diesen Wochen – Absturz, Depression, Bulimie, Kokainsucht. Doch davon handelt „Remix 2“ nicht. Hier geht es um Eintragungen in Gästebüchern und Klosprüche, um Stöckelschuhe und das Zumöbeln von Wohnungen. Die ganze Sucht- und Krankheitsgeschichte soll später in einem Roman verarbeitet werden, verspricht der Autor. Aber weil er auch weiß, was er seinen Fans und der Promotionmaschinerie schuldig ist, die da angelaufen ist, beginnt BvSB die Lesung mit einem unveröffentlichten Text, der nicht aus „Remix 2“ stammt – „Drunter und drüber“ heißt dieser Text, und er handelt von der Krankheit. Von der Unmöglichkeit, Hilfe von außen in Anspruch zu nehmen, solange man nur lebt, um davon zu schreiben. Davon, dass bei den Klinikaufenthalten nicht Genesung das Ziel gewesen sei, sondern ein Roman. Vom Denken in Kapiteln und vor allem: Vom Helden dieses ungeschriebenen Romans, von Benjamin von Stuckrad-Barre selbst. Schließlich davon, dass die Hilfe von innen kommen musste, als der Held und Autor bei der Durchsicht alter Texte plötzlich merkte: „Es gibt mich!“.

Der Text, der sich bekenntnishaft gibt und der sich seiner Wirkung sehr bewusst ist, sagt es nicht ausdrücklich, aber er legt es nahe: Die Texte, die BvSB gerettet haben, sind die, die jetzt in dem neuen Buch vorliegen. Und so kann sich der geläuterte Autor denn an deren Präsentation machen. Der Beamer projiziert jeweils passende Bilder an die Wand, neben Stuckrad-Barre qualmt die eigentlich ausgedrückte Zigarette weiter, seine Gestik ist sparsam und zurückhaltend: Auf die Frage eines Textes nach den Problemen des Paares Kurt und Paola Felix hebt er als Kurt Felix ratlos die Arme gen Himmel. Als Kandidatin bei der MDR-Kuppelshow „Je t’aime“ spricht er auch gern mal ein etwas verwaschenes Sächsisch. Die Stuckrad-Barre-Fans im ColumbiaFritz freuen sich – über die Performance, über Formulierungen wie die „Schweißperlenvollversammlung auf der Stirn“ oder die „eigene Weiternördlichkeit“ in Bezug auf den Irak, und über BvSB insgesamt.

Er selbst habe auch Spaß gehabt, behauptet er hinterher, und dass er draußen noch signieren werde. Im Ganzen sind Lesungen eigentlich eher öde Rituale.