„Marokko steckt in einer Krise“

Professor Mohamed Darif warnt nach den Anschlägen von Casablanca davor, alle Islamisten in einen Topf zu werfen. Die Demokratisierung sieht er nicht in Gefahr

taz: Marokko galt als ruhiges Land – bis zu den Anschlägen von Casablanca am 16. Mai, bei denen 44 Menschen getötet wurden. Wie hat die Gesellschaft die Gewalt verarbeitet?

Mohamed Darif: Die Ruhe im Land ist relativ. Marokko steckt in einer tiefen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Krise. Wir konnten auf das Schlimmste gefasst sein. Was jedoch wirklich unerwartet kam, war die Kaltblütigkeit, mit der die Anschläge vorbereitet waren. Niemand wäre je auf die Idee gekommen, dass Marokkaner bereit sind, als Selbstmordattentäter zu sterben.

Wie analysiert die offizielle Politik die Lage?

Offiziell werden die Anschläge kleinen salafistischen Gruppen zugeschrieben, die nichts mit der muslimischen Tradition Marokkos zu tun haben. Regierung und Sicherheitskräfte debattieren noch, ob dies als lokales Problem zu begreifen ist, oder als Ableger des internationalen Terrors.

Es wurden über hundert Menschen verhaftet. Das spricht doch eher für eine weitläufige, gut organisierte Szene.

Man darf nicht den Fehler machen, zwei Sachen zu vermischen. Zum einen gibt es die kleinen radikalen Gruppen, die in der Lage sind, Anschläge vorzubereiten und durchzuführen. Zum anderen gibt es radikale Strömungen innerhalb des politischen Islamismus, die sich am Wahabismus – dem Islamverständnis Saudi-Arabiens – orientieren. Nicht alle sind in die Anschläge verwickelt. Die Polizei macht nun viele Razzien. Sie nennt das Vorbeugung.

Das Ende der „Laschheit“, wie König Mohamed VI. es nennt, bedeutet also breite Repression gegen den Islamismus?

So einfach ist das nicht. Die meisten islamistischen Bewegungen sind nicht salafistisch oder wahabitisch orientiert. Die beiden großen Organisationen sind relativ moderat und akzeptieren die Demokratie. Eine von ihnen, die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD), sitzt sogar im Parlament, aus voller Überzeugung.

Gefährden die Anschläge die zaghafte demokratische Öffnung in Marokko?

Ich glaube nicht. Der König hat in einer Ansprache Ende Mai davon gesprochen, gegen die vorzugehen, die die Demokratie gefährden. Die verschärften Sicherheitsmaßnahmen sind präventiver Art, um die Radikalen zu schwächen. Die Repression richtet sich weder gegen die modernen, laizistischen Kräfte noch gegen die breite islamistische Bewegung. Der marokkanische Staat wird nicht gegen die Islamisten im Allgemeinen Front machen. Denn der Islamismus hat sich bisher immer einbinden lassen, wenn es um die Stabilität des Staates ging.

Nach den Anschlägen war in Marokkos Presse viel von „notwendiger Selbstkritik“ die Rede. Was ist damit gemeint?

Alle Kräfte der Gesellschaft hinterfragen zurzeit ihr eigenes Handeln. In den laizistischen Kreisen werden Stimmen laut, die beklagen, man habe weite Kreise der Bevölkerung den Islamisten überlassen. Sie bedauern den mangelnden Kontakt mit dem ländlichen Marokko, aber auch mit dem verarmten städtischen Marokko. Dort machen heute nur noch die Islamisten Politik. Sie haben einen einfachen, sehr populistischen Diskurs. Der kommt an. Aber auch die Islamisten reden von Selbstkritik. Schließlich müssen sie sich vorwerfen lassen, dass in ihrem Umfeld die radikalen Gruppen entstanden sind.

Aber es sieht so aus, als würden die letzten Bande zwischen Modernisten und den Islamisten, die beide die staatliche Politik kritisiert haben, jetzt auch noch reißen. Droht eine Polarisierung wie in Algerien?

Nein, ich glaube nicht. Marokko und Algerien sind grundverschieden. In Marokko hat das System immer auf den Ausgleich verschiedener Strömungen gesetzt. Der König steht über den ideologischen Auseinandersetzungen. Anders als in Algerien, wo Regierung und Präsident Teil der Debatte sind. Die Islamisten in Marokko glauben nicht an Gewalt, und bei den Modernisten gibt es nur eine ganz, ganz kleine Minderheit, die den Dialog mit den Islamisten ablehnt.

INTERVIEW: REINER WANDLER