Recht auf eigenes Recht

Der Irak will die Todesstrafe wieder einführen – gegen den Protest von USA und EU. Doch Menschenrechte messen sie mit zweierlei Maß, als Kritiker sind sie unglaubwürdig

Wie verhalten sich die USA, wenn der Irak Folter legalisiert, um Anschläge zu verhindern?

Schlagzeilen hat die Meldung nicht gemacht. Wenn es um nicht weniger als um die neue Weltordnung, die Zukunft des transatlantischen Bündnisses und der UNO sowie um die künftige politische Gestaltung ganzer Regionen geht, dann können Details schon mal aus dem öffentlichen Blickfeld geraten. So etwa die Ankündigung der neuen irakischen Übergangsregierung, in naher Zukunft die Todesstrafe wieder einführen zu wollen. Diese Nachricht ist in mehrfacher Hinsicht interessant: Wie in einem Brennglas werden in ihr einige der Schwierigkeiten gebündelt, die bei dem seltsamen Versuch entstehen, Besatzer und eine – angeblich – souveräne Regierung nebeneinander her regieren zu lassen und sich dabei auf ein imaginäres gemeinsames Gerüst von Werten stützen zu wollen.

Dass sich die UNO und die Europäische Union gegen die Wiedereinführung der Todesstrafe im Irak ausgesprochen haben, überrascht nicht. Es entspricht den Grundsätzen der beiden Organisationen. Aufschlussreich ist hingegen, dass auch der US-Berater im irakischen Justizministerium dem zuständigen Minister Malek Dohan al-Hassan mitgeteilt haben soll, die Koalition wünsche die vollständige Abschaffung der Kapitalstrafe. Von US-General Tommy Franks, dem früheren Chef des US-Zentralkommandos, war sie nach der Besetzung Iraks im April 2003 zunächst ausgesetzt worden.

Der Minister in Bagdad reagierte kühl auf das Ansinnen aus Washington. Und lehnte es ab. Strafen müssten eine abschreckende Wirkung haben. Langjährige Haftstrafen hält Hassan bei schweren Verbrechen für unwirksam, und er belegt diese Position mit einem Beispiel aus der Regierungszeit von Saddam Hussein: Als sich Autodiebstähle häuften, sei dieses Delikt mit der Todesstrafe belegt worden. Das Problem habe sich daraufhin schnell erledigt. Ohnehin versteht der Justizminister nicht, warum der Irak auf das Mittel der Todesstrafe verzichten solle. Schließlich gebe es auch viele andere Länder, die diese Strafe verhängten, beispielsweise die USA. „Warum soll Irak nicht das Recht dazu haben?“

In der Tat – warum nicht? Schließlich gehört die Todesstrafe in den USA zu den regelmäßigen Mitteln des Strafvollzuges. Erst am Dienstag wurde in Oklahoma ein Mann hingerichtet, der verurteilt worden war, weil er 1993 seine Tante umgebracht hatte. Man kann eine solche Exekution mit Recht für barbarisch halten, für eine Menschenrechtsverletzung, für staatlich legitimierten Mord. Aber solange die Welt diese Praxis im mächtigsten Staat der Erde lediglich zur Kenntnis nimmt – was sollte sie übrigens auch sonst tun? – so lange gibt es kein Argument dafür, Regierungen in den Arm zu fallen, die ähnliche gesetzliche Regelungen planen. Außer einem einzigen: Dass man nämlich Politikern anderer Länder die Reife und Weitsicht abspricht, die man für sich selbst in Anspruch nimmt.

Eine dümmere Begründung gibt es nicht. Nichts anderes ist vergleichbar gut geeignet, den ohnehin weit verbreiteten Verdacht zu nähren, dem Irak sollten eine fremde Kultur und fremde Werte aufgezwungen werden, die Bevölkerung werde in politischer Unmündigkeit gehalten und die Regierung als Staatsmacht zweiter Klasse behandelt. Schließlich ist die Todesstrafe seit langem fester Bestandteil des irakischen Rechtssystems und wird durchaus auch von Gegnern des gestürzten Regimes befürwortet. Das kann man missbilligen. Aber mit welchem Recht sollte man Einmischung in das Justizwesen eines Landes fordern dürfen, das angeblich gerade zu einem Musterbeispiel für ein demokratisches Gemeinwesen entwickelt wird?

Die Frage hat sich so oder ähnlich schon häufiger gestellt, und auch das Problem unauflöslicher Widersprüche zwischen internationalen Normen und nationalem Recht ist nicht neu. Das UN-Tribunal, das die Hauptverantwortlichen für den Völkermord in Ruanda aburteilt, kann keine Todesurteile aussprechen. Mördern, die nicht zu den Drahtziehern gehören, wird hingegen von ruandischen Gerichten der Prozess gemacht. Die fällten bisher mehr als 600 Todesurteile, von denen allerdings nur wenige vollstreckt wurden. Siegerjustiz? Willkürjustiz? So einfach liegen die Dinge nicht. Das ruandische Strafgesetzbuch sah die Todesstrafe für bestimmte Verbrechen seit langem vor, und die internationale Staatengemeinschaft hat sich vor dem Genozid für diese Tatsache nie interessiert. Es ist nicht einfach, Überlebenden des Völkermords zu erklären, dass Gattenmörder zwar weiterhin hingerichtet werden können und dürfen, diejenigen aber, die ihre Familien systematisch abgeschlachtet haben, von dieser Strafe verschont bleiben müssen.

Auf dieses Dilemma hinzuweisen, ist nicht gleichbedeutend mit einem Plädoyer für die Wiedereinführung der Todesstrafe im Irak oder deren Beibehaltung in Ruanda. Aber es zeigt die Problematik der vermeintlich universalen Werte. Was immer sie sein mögen – universal sind sie bestimmt nicht, und nicht auf jede spezifische Frage gibt es eine allseits befriedigende Antwort. Wie werden sich die USA wie andere westliche Länder eigentlich verhalten, wenn die irakische Regierung beschließen sollte, Folter für legal zu erklären, falls damit terroristische Anschläge verhindert werden können?

Ob und wie führende Mächte, allen voran die Vereinigten Staaten, verloren gegangene Glaubwürdigkeit und Vertrauen wiedergewinnen können, die dem irakischen Abenteuer geopfert wurden, ist bislang noch nicht abzusehen. Wie es nicht funktionieren wird, kann hingegen mit einiger Sicherheit gesagt werden: Solange bei Menschenrechtsfragen weiterhin mit zweierlei Maß gemessen wird, je nachdem, wie einflussreich eine Regierung ist, so lange wird die Zahl jener steigen, die dem Westen insgesamt und vor allem den USA eine hegemoniale Politik unterstellen, die alle Prinzipien den eigenen Interessen unterordnet. Terroristen können sich kein für sie günstigeres geistiges Klima wünschen.

Warum darf man sich in das Justizwesen des Irak einmischen, der doch angeblich gerade demokratisiert wird?

Zum Nulltarif ändern lässt sich das nicht. Im Gegenteil, der Preis dürfte von vielen westlichen Politikern als hoch empfunden werden: Es gilt, hehren Worten endlich Taten folgen zu lassen – also nationale Gesetze dem proklamierten universalen Wertesystem anzupassen und entsprechende internationale Vereinbarungen zu beachten beziehungsweise zu unterzeichnen. Die Liste der notwendigen Maßnahmen ist lang: Abschaffung der Todesstrafe, Beitritt zum Internationalen Strafgerichtshof, Abbau protektionistischer Handelsgesetze, Ratifizierung des Zusatzprotokolls der Anti-Folter-Konvention der UNO, Anerkennung von geschlechtsspezifischer Verfolgung als Asylgrund sind nur einige Beispiele dafür.

Nach wie vor werden entsprechende Forderungen gerne belächelt und als Beleg für die Realitätsferne so genannter Gutmenschen abqualifiziert. Dabei wäre ihre Verwirklichung inzwischen keineswegs mehr in erster Linie eine Frage der politischen Moral. Sondern ein wesentlicher Bestandteil globaler Sicherheitspolitik. BETTINA GAUS