Heimat für zwölf Stunden

„Der Platz“, sagt Oleg, „ist Fluch und Segen zugleich. Für Spediteure ist er ein Fluch, für Fahrer ein Segen“

aus Frankfurt (Oder) UWE RADA

Der Nächste ist ein Tankwagen. Genervt kurbelt der Fahrer das Fenster hinunter und reicht die Papiere. „Wie lange?“ – „Zwölf bis vierzehn Stunden“, sagt Stefan Kosseleck, „der Platz ist voll.“ Er gibt dem Fahrer die Papiere zurück, doch der lässt nicht locker. „Ich habe flüssiges Stearin im Tank, der Spediteur wartet nicht gern.“ – „Nichts zu machen“, antwortet Kosseleck. „Mit Stearin kommen Sie nicht am Stauplatz vorbei. Versuchen sie es über Guben, da gibt es keinen Stau.“ – „Geht nicht“, raunt der Fahrer und lässt den Motor aufjaulen. „Meine Spedition sitzt in Słubice, gleich hinter der Grenze.“

Wortwechsel wie diese zählt Stefan Kosseleck nicht mehr, sie gehören zum Alltag am Truckstop in Frankfurt (Oder). Am größten Grenzübergang zwischen „altem“ und „neuem“ Europa gibt es auch die längsten Staus. Zehn bis zwölf Stunden auf der Autobahn sind keine Seltenheit, da will natürlich keiner noch mal dieselbe Zeit auf dem „Zollhof am Frankfurter Tor“ verbringen, wie der Truckstop offiziell heißt. „Doch Vordrängeln, wie es in Polen manchmal vorkommt und was mitunter sogar zu Schlägereien führt“, sagt Stefan Kossleck, „ist hier nicht möglich.“ Wer auf der A 12 kurz vor Frankfurt (Oder)-West abfährt, trifft an der Zufahrtsrampe auf Stefan Kosseleck und Recht und Ordnung. Lkws mit Schnittblumen, Hilfsgütern und verderblichen Lebensmitteln können passieren und zur Grenze vorfahren. Der Rest bekommt Laufzettel, Wartenummer und einen Stellplatz. Dann ist erst mal Pause.

Jacek, Marcin und Paweł stehen vor ihren Führerhäusern und vertreten sich die Füße. Jacek steht seit 7.30 Uhr auf dem Zollhof. Jetzt ist es 15 Uhr, und noch immer hat sich der kleine Corsa mit dem Gelblicht nicht blicken lassen. „Der Corsa“, sagt Jacek, „ist das Signal, dann heißt es alles stehen lassen, den Motor anwerfen und in der Kolonne zur Grenze.“ Noch aber ist Zeit, „viel zu viel Zeit“, wie Jacek findet. Aus Hamburg kommt er und transportiert Büromöbel nach Polen. Seine Kollegen murmeln zustimmend, sie haben sich in Amsterdam auf den Weg gemacht. „Es ist zum Kotzen“, sagt Jacek, „der deutsche Zoll arbeitet nicht, der polnische Zoll arbeitet nicht, und wir müssen warten.“ – „Besser hier auf dem Platz statt in Polen auf der Autobahn“, sagt Marcin. Jacek schweigt.

„Truckstop am Frankfurter Tor“. Das handgemalte Schild am Imbisscontainer zeigt, hier ist der Marktplatz der Truckerstadt. Hier stehen auch die anderen Gebäude von Truckstop City, die Toilettencontainer mit ihrem beißenden Gestank, das Magazin, wo die Waren nur auf Russisch beschildert sind, der Elektronikdiscounter, wo man Kühlschränke der Marke „Sibir“ kaufen kann.

Am Marktplatz trifft man sich und schlägt die Zeit tot, sucht nach Worten oder lässt es sein. Die Themen sind ohnehin immer dieselben, die Wartezeiten an der Grenze, die Staus an den anderen Übergängen, die Kontrollen auf deutscher und auf polnischer Seite. Die Grenze ist allgegenwärtig hier, ohne die Grenze würden sie nicht hier sein, nicht allein, nicht zu zwei oder zu dritt. Und ohne den Truckstop würden sie nicht in Ruhe essen, ihr Feierabendbier trinken und ein paar Stunden schlafen können, die mehr als 1.000 Heimatlosen aus Polen und der Ukraine, aus Russland und den Niederlanden, aus Deutschland und Litauen, aus Kasachstan und Weißrussland, für die der Autohof ein paar Stunden lang zur Heimat wird. „Der Platz hier“, sagt Oleg, ein schmächtiger Fahrer aus der Ukraine, „ist Fluch und Segen zugleich. Für die Spediteure ist er ein Fluch, für die Fahrer ein Segen.“

An diesem Tag erst recht, an diesem Tag bekommen die Bewohner von Truckstop City Besuch. Anne Krüger, Soziologiestudentin an der Europa-Universität Viadrina, hat sich mit einer Handvoll KommilitonInnen aus Frankfurt auf den Weg zum Stauhof gemacht. Auf den Lkw-Fahrer haben sie es abgesehen, nicht auf jeden einzelnen, sondern auf jenen Typus eines „Pioniers“, für den Europa längst keine Frage mehr von Ost und West ist, sondern von Wartezeiten, Schlaglöchern und den neuesten Zollbestimmungen.

„Was ist das Selbstbild der Fahrer? Wie hat sich das Berufsbild geändert? Wie nehmen die Fahrer die Grenze wahr? Wie die Grenzen zwischen ihnen selbst?“ Diese Fragen will Anne Krüger den Lkw-Fahrern stellen. Doch dafür muss erst mal die nötige Atmosphäre geschaffen werden. Zusammen mit der Platzchefin Silvia Gosemann haben die StudentInnen deshalb ein Sommerfest organisiert. Würstchengrill, Bier und Biertische, dazu ein Volleyballfeld. Im Zentrum von Truckstop City geht es den Studierenden heute um die Verbindung von Theorie und Praxis.

Grzegorz ist einer der ersten, die sich an den Biertisch setzen. Nur am Nachbartisch hockt schon eine Gruppe Russen. Der polnische Fahrer, Mitte vierzig, hager, Stoppelbart, spricht leise, als hätte er ein Geheimnis mittzuteilen. „Vieles Gerede ist Quatsch“, sagt Grzegorz, „vor allem, dass die Russen einem Polen nicht helfen, wenn er auf der Straße liegen bleibt. Doch meistens sind die Russen und Ukrainer unter sich, dann die Polen und auch die Balten.“

Und dann sind da noch die Deutschen. „Wenn es mal Stress gibt, dann mit denen“, sagt Grzegorz. „Einmal wollte einer nicht zwischen zwei Polen stehen und hat Krawall gemacht.“ Grzegorz, der Einzelgänger, blickt etwas ratlos auf das Treiben. Bevor ihn die Studenten interviewen können, hat er sich aus dem Staub gemacht. Er will nach Hause zu Frau und Kind, 150 Kilometer noch, dann ist es geschafft.

Inzwischen ist es voll geworden, nicht zuletzt dank polnischer und russischer Popmusik, die neben dem Volleyballfeld aus ein paar Lautsprechern plärrt. Arkadi und seine Kollegen müssen noch nach Moskau. Da kommt es auf ein paar Stunden mehr nicht an, vor allem, wenn es Würstchen und Bier gibt und hübsche Studentinnen. Die Russen machen Stimmung und klatschen, vor allem als ein Kollege die Idee hat, ein Tauziehen zu veranstalten. „Russen gegen Polen“, sagt er, „mal seh’n, wer stärker ist.“

Russen oder Polen? Im Elektronikgeschäft und im Magazin ist das keine Frage. In den Ladencontainern spricht man Russisch. Von den 30 Mitarbeitern von Silvia Gosemann, der Platzchefin, arbeitet die Hälfte in den Geschäften, die meisten sind Russlanddeutsche aus Frankfurt und Umgebung. „Verkauft wird vor allem an Russen“, sagt Gosemann, „die Polen kriegen zu Hause alles, was sie wollen.“ So steht in den Containern zum Verkauf, was in Russland Mangelware oder zu teuer ist: Fernseher, Videorecorder, Walkmen, Mikrowellenherde, Staubsauger. „Absolute Renner“, sagt eine Verkäuferin, „sind derzeit aber Waschpulver und Speiseöl.“

Inzwischen ist auch Daniela Lampe zum Würstchenstand neben dem Volleyballnetz gekommen. Daniela, wie sie von allen genannt wird, ist der „rote Engel“ auf dem Truckstop. Gerade eben ist sie mit ihrem roten Opel Corsa noch die erste Reihe abgefahren, hat das Gelblicht angestellt, gehupt, gewunken und der Truckerstadt wieder 50 Bewohner genommen. Neue stehen an der Rampe von Stefan Kosseleck schon Schlange. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen in Truckstop City, der wohl einzigen Stadt in Europa, die alle zwölf Stunden ihre Bevölkerung wechselt.

Am Würstchenstand erzählt Daniela Lampe den StudentInnen, wie es auf der polnischen Seite aussieht. „Kein Stauplatz, nichts“, sagt sie, „nur stop and go.“ Daniela Lampe weiß das, sie ist schon mal mitgefahren. „Man muss schließlich wissen, wie das ist“, sagt sie. Ihre leuchtenden Augen sagen alles, sie gehört dazu, zur Truckergemeinde, auch wenn sie nur einen Opel Corsa fährt. „Bei uns dagegen“, sagt sie, „kann man so lange bleiben, bis man seine Ruhezeiten wieder reinhat.“ Daniela Lampe lässt ihren Blick über die Fahrer an den Biertischen schweifen. „Vielleicht ist das auch der Grund, warum es hier so ruhig zugeht. Die sind glücklich, wenn sie mal nicht auf dem Bock sitzen müssen.“

Eine Analyse der Lkw-Ladungen am Autobahnübergang von Frankfurt (Oder), hat der Osteuropahistoriker Karl Schlögel einmal gesagt, würde mehr Aufschluss über die Bedürfnisstruktur der europäischen Wirtschaft geben als die Bulletins der großen Konzerne. Was aber wird die soziologische Untersuchung der Vaidrina-StudentInnen ergeben? Dass Trucker Nomaden sind, Einzelkämpfer, die Ritter der Neuzeit, die sich nur selten zusammentun?

Nichts von alldem. Auf dem Volleyballfeld übt sich ein Dutzend Fahrer im Mannschaftssport – Polen und Russen auf beiden Seiten – und hat allerlei zu lachen. Erstaunlich behende springt ein schwergewichtiger Brummifahrer in die Höhe und drückt den Ball mit Wucht übers Netz. Alle klatschen. „Hab ich doch gesagt, dass die sich näher kommen“, raunt Silvia Gosemann den StudentInnen zu. Die freuen sich. Zur Soziologie der Truckerstadt gehört es offenbar, die Theorie der Praxis anzupassen.

Überhaupt, die Praxis. „Auf dem Platz wird man zum richtigen Spezialisten für Europa“, sagt Stefan Kosseleck. „Was hier nicht alles über die Grenze gefahren wird, von Barbiepuppen bis zum Toilettenpapier, da ist alles dabei.“ Dass sich hier, an der Grenze zwischen Ost und West, Europa trifft, das glaubt er schon. Nur ist er sich nicht sicher, ob dieses Europa eine Zukunft haben wird. „Es stimmt doch was nicht“, sagt Kosseleck, „wenn man Schnittblumen aus Afrika vom Blumengroßmarkt im holländischen Schiphol nach Moskau fährt. Oder wenn man Kartoffeln aus der Gegend hier zum Schälen nach Italien bringt und dann wieder zurück.“ Mehr Investitionsgüter würde sich Kosseleck auf den Ladeflächen wünschen, zum Zeichen, dass es aufwärts geht.

So aber bleibt die Hoffnung, dass sich mit dem polnischen Beitritt zur EU wenigstens die Wartezeiten etwas verringern. Um die Zukunft der Truckerstadt macht er sich vorerst keine Sorgen. Auch wenn im nächsten Jahr die Zollschranken fallen, Passkontrollen gibt es noch eine Weile. Nicht mehr vom Zoll wird dann Frau Gosemanns Firma „Garonor“ beauftragt werden, sondern vom Bundesinnenmister.

Nun ist das Seil da. Silvia Gosemann, die Bürgermeisterin von Truckstop City, hat es holen lassen. Gosemann und die StudentInnen schauen sich an. Polen oder Russen? Einer nimmt das Seil, ein anderer hält dagegen. Nacheinander reihen sie sich ein, wieder wird es kein Ländermatch. „Polen und Russen ziehen an einem Strang“, sagt jemand. Diesen Ausgang des Festes hatten sich selbst die StudentInnen nicht vorgestellt.