Taz auf Türkisch

Nach 25 Jahren versucht wieder eine linksliberale, unabhängige Tageszeitung auf dem türkischen Pressemarkt Fuß zu fassen. Ganz ohne Abos

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

Es sieht aus wie eines der üblichen türkischen Massenblätter. Doch die Themen, die fallen deutlich aus dem Rahmen des sonstigen Boulevard-Journalismus. Politische Prozesse, Gewerkschaftsfragen, Armut, Arbeitslosigkeit und außenpolitische Perlen wie ein Treffen von Brasiliens Präsident Lula mit der chinesischen Staatsführung. Keiner anderen Zeitung war dieses Ereignis auch nur eine Zeile wert.

Das Konzept von Birgün, einer vor vier Wochen neu auf den Markt gebrachten Tageszeitung aus Istanbul, hört sich an, wie das der taz vor 20 Jahren: Unabhängigkeit von Großverlagen oder Parteien, Publizieren von unterdrückten Nachrichten, Forum für eine linke Debatte, und das alles in einer Form, die sowohl den Fabrikarbeiter wie den interessierten Studenten oder Intellektuellen ansprechen soll.

Tatsächlich ist Birgün nach einer fast 25-jährigen Unterbrechung der Versuch, wieder eine unabhängige linke Tageszeitung in der Türkei zu etablieren. Die letzte nicht parteigebundene Zeitung mit diesem Anspruch hieß Demokrat und wurde nach dem Putsch im September 1980 dichtgemacht. Heute heißt die Zeitung also Birgün („Ein Tag“, im Sinne von täglich) und ähnelt damit auch in der Namensgebung der taz: statt Befreiung, Roter Morgen oder ähnlichem geht es erst einmal darum, jeden Tag eine Ausgabe herauszubringen.

Obwohl die Linke in der Türkei zurzeit so schwach ist wie lange nicht, ist es dennoch kein Zufall, dass Birgün ausgerechnet jetzt erscheint. Die Zeitung will versuchen, die Vereinzelung und Isolierung verschiedener linker Strömungen abzumildern und dadurch zu einer neuen Bewegung beizutragen – der wichtigste Grund, dass die Zeitung jetzt erscheint, ist aber die neu erworbene Freiheit. Im letzten Jahr verabschiedete das Parlament nämlich mehrere „Demokratie“-Pakete, die unter anderem auch die Pressefreiheit betrafen.

„Noch vor zwei Jahren“, sagt Cüneyet Akman, Chefredakteur von Birgün, „hätten wir ein solches Blatt nicht machen können.“ Trotzdem sind die Schwierigkeiten für das Blatt enorm. Da ist zuallererst das fehlende Geld. Abonnements, bis heute das wirtschaftliche Rückgrat der taz, gibt es in der Türkei nicht. Alles muss am Kiosk erwirtschaftet werden, denn Anzeigen bekommt Birgün natürlich auch kaum. Die derzeit 25.000 verkauften Exemplare reichen da nicht aus. Über Wasser gehalten wird das Blatt erst einmal durch Leute, die, ähnlich wie die Genossenschaftsanteile bei der taz, Aktienanteile an der Zeitung erwerben. Unterstützer findet Birgün hauptsächlich in den Reihen radikalerer Gewerkschafter, die sich schon lange ärgern, dass die Presselandschaft in der Türkei völlig von Konzerninteressen geprägt ist. Den größten Anteil am Zeitungsmarkt kontrolliert die Dogan-Holding, in Deutschland durch Hürriyet bekannt.

Der Konzern hält sich mit Radikal zwar auch ein linksliberales Blatt, das aber, vor allem wenn die wirtschaftlichen Interessen der Dogan-Holding tangiert sind, wie alle anderen Publikationen aus dem Haus die Konzernlinie zu vertreten hat. Trotzdem, glaubt der Birgün-Kolumnist Saruhan Oluc, sei Radikal mittlerweile eine Konkurrenz für das Blatt. „Von Folterskandalen über Kurdenkrieg bis zur Debatte über den Völkermord an den Armeniern kannst du in Radikal heute über alles schreiben“, meint Saruhan, „Birgün muss sich schon durch Qualität beweisen.“

Daran hapert es aber noch, denn für gute Recherchen braucht man mehr Geld und mehr Leute. Ein Hoffnungsschimmer bietet da ausgerechnet der Staat. In der Türkei bekommt jede Zeitung, die mehr als 20.000 Exemplare verkauft und mindestens sechs Monate auf dem Markt ist, automatisch bestimmte amtliche Anzeigen. Das würde angesichts des schmalen Budgets von Birgün einiges erleichtern. Deshalb gilt es jetzt zunächst erst einmal, heil über den Sommer zu kommen. Ab Oktober gibt es dann vielleicht indirekte Staatsknete.