Unterricht im Schichtbetrieb

In der Hauptstadt der afghanischen Provinz Nimros reicht die Zahl der Schulräume nicht aus, um den Bildungshunger zu stillen. Nach 23 Jahren Krieg und geschlossenen Bildungseinrichtungen herrschen Neugier – und Mangel. In Nimros werden Mädchen und Jungen gemeinsam unterrichtet

AUS SARANDSCH UTE SCHEUB

Die Grund- und Oberschule in Sarandsch, der Provinzhauptstadt der südwestafghanischen Provinz Nimros, wird geradezu überrannt. 23 Jahre lang hatte Krieg geherrscht, 23 Jahre lang waren alle Schulen geschlossen gewesen, nun sind die Menschen so begierig auf Lernen und Schule, dass im Mehrschichtensystem unterrichtet werden muss. Auch in Sarandsch.

Wenn man das staubige Schulgelände mit seinen wenigen schmucklosen Baracken betritt, kann man kaum glauben, dass hier über 3.000 SchülerInnen und mehr als 100 LehrerInnen untergebracht sind. Das geht nur, weil die Hälfte der Kinder vormittags unterrichtet wird – und die andere Hälfte nachmittags. In der Mittagspause zwischen 12 und 13 Uhr bringen die Schülerinnen der zwölften Klasse erwachsenen AnalphabetInnen Lesen und Schreiben bei.

Noch vor Unterrichtsbeginn um acht Uhr morgens werden Englischkurse abgehalten, und am späten Nachmittag beginnt ein Fortbildungsprogramm für LehrerInnen. Saleha Mehrsad, die Direktorin, hat dafür gesorgt, dass ihre Schule bis an die Grenzen ihrer Kapazität und darüber hinaus ausgenutzt wird.

In anderen Provinzen Afghanistans ist die Situation teilweise ganz anders, aber im 45.000 Quadratkilometer umfassenden Nimros mit seinen rund 150.000 EinwohnerInnen lässt eine bildungsbegeisterte Provinzregierung einen großen Teil ihrer Ressourcen in den Aufbau des Bildungssektors fließen. Die Regierung unter Provinzgouverneur Abdulkarim Barahui wird von einer Gruppe demokratisch und antifundamentalistisch denkender Intellektuellen gebildet. „Wir mögen wirtschaftlich zurückgeblieben sein“, sagt Bildungsdirektor A. Bachman über die von der internationalen Gemeinschaft vergessene Wüstenprovinz, „aber kulturell sind wir Vorreiter. Bildung hat für uns oberste Priorität. Und: Wir haben uns immer bemüht, Frauen und Mädchen zu fördern und miteinzubeziehen.“ Nimros ist deshalb die einzige Provinz Afghanistans, in der Mädchen und Jungen gemeinsam unterrichtet werden, zumindest in der Grundschule.

„Die Überschrift für das Schulwesen ist Mangel“, sagt der Bildungsdirektor. Die Analphabetenrate in Nimros liegt ungefähr bei 70 Prozent, das ist weniger als in den meisten anderen Provinzen, aber immer noch sehr hoch. Um den enormen Bedarf zu decken, reichen die 67 Schulen mit 23.000 SchülerInnen und 760 LehrerInnen sowie die 100 neu eingerichteten Alphabetisierungskurse nicht aus. „Es fehlt an Lehrern und Schulbüchern“, berichtet Direktor Bachman.

Aber es fehlt auch an etwas anderem: an Desinteresse. Mehr als eine abblätternde Wandtafel und einige vom Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, Unicef, verteilte Leselernbücher steht für den Unterricht nicht zur Verfügung. Und doch sind die ErstklässlerInnen von Sarandsch konzentriert und motiviert. Niemand stört, niemand hampelt herum und macht Faxen, niemand hat gestern zu viel Gameboy gespielt und muss das nun an seinen Klassenkameraden abreagieren. Heute ist der Buchstabe „F“ dran. „Farin firni ra khosch darad, Farin mag Pudding“, liest die Klasse lauthals aus dem Unicef-Buch vor. Gemeinsames Sprechen und rhythmisches Wiederholen, das ist die beste Methode, wenn man keine schicken bunten Lernmaterialien besitzt. „Unsere Bevölkerung besteht aus bildungsliebenden Menschen, unsere Jugend hat großes Interesse an Bildung und Kultur“, sagt Provinzgouverneur Barahui. Und zitiert den Vers eines afghanischen Dichters: „Menschen sind so lange nicht Menschen, solange sie nicht den Degen gegen eine Feder tauschen würden.“